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Orpheus und das Wörterbuch – Poetische Sprachreflexion und Sprachexploration bei Francis Ponge
Poetische Erkundungen in und mit Wörterbüchern:
Francis Ponge

Francis Ponge: Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine. Deutsch von Peter Handke. Frankf./M. 1982. »Le Carnet du bois de pins« und »La Mounine ou Note après coup sur un ciel de Provence« erschienen zusammen erstmals 1952 in Ponges Band »La Rage de l'expression«. »Le Carnet« war fünf Jahre zuvor schon als Einzeltext erschienen. – In der Übersetzung Handkes liegt von Ponge außerdem vor: Francis Ponge: Kleine Suite des Vivarais. Salzburg/Wien 1988.

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In Francis Ponges poetischem Text »Das Notizbuch vom Kiefernwald« (deutsche Übersetzung von »Le carnet du bois du pin«) findet sich ein Textabschnitt mit der Überschrift: »Im ›Littré‹ nachzuschlagende Wörter«. Littré ist der Name eines großen französischen Wörterbuchs. Was sucht ein so überschriebener Abschnitt in einem poetischen Text? Er ist mit einer Fußnote versehen (was für poetische Texte auch ungewöhnlich ist):

»Ich hatte in La Suchère keine Möglichkeit, mit einen Littré zu besorgen. So notierte ich mir nur die nachzuschlagenden Wörter. Die Definitionen im Littré wurden erst mehrere Wochen später, gegen Ende September, beigefügt.« (Ponge 1982, 34)

Damit wird explizit auch der Vorgang der Benutzung des Wörterbuchs als Thema in den Text einbezogen. Daß dieser »Notizbuch« heißt, macht dies insofern weniger überraschend, als ein Notizbuch ja Aufzeichnungen aller möglichen Dinge enthalten kann – warum also nicht Notizen aus einem Wörterbuch? Hier aber ist es nicht so, daß das Notizbuch geführt wird, um damit die Basis für etwas anderes zu schaffen – etwa eine Materialsammlung für einen poetischen Text –, sondern dieser Text präsentiert sich selbst als Notizbuch. Und zu seinen Inhalten gehören zitierte Passagen aus einem Wörterbuch.

»Caduc (hinfällig): das, was daran ist, zu fallen. [Die eingeklammerten Passagen sind wörtliche deutsche Übersetzungen, Bestandteile des übersetzten Textes]
Cadicité (Hinfälligkeit): mangelnde Beständigkeit eines Teilstückes.
Fournaise: 1. Großfeuer; 2. sehr heftiges Feuer; 3. (übertreibend) ein sehr heißer Ort.
Cosmétique: derselbe Ursprung wie cosmos: Welt, Ordnung, Putz.
Encombre (Sperre): ein behindernder Zwischenfall; doch das Wort stammt ab von incombrum: d.i. ein Haufen von gefälltem Holz (eine wundersame Bestätigung).
Serpentement (Geschlängel): das Wort existiert.
Lichen (Flechte): pflanzliche Agamen (agames), deren Leben unterbrochen wird von Trockenheit.
Halle, halliers (Markthalle, Dickicht): existiert.
Élastique: was in seine Anfangsform zurückfindet.
Champignon (Pilz): was in ländlichen Gegen wächst (lieux champêtres, etymologisch).
Brossrie: das Wort steht nicht im Littré. Dafür: Brossailes. Broussailes. (Dorngestrüpp.)
Négligentes (achtlose): von nec legere, nicht aufnehmen, nicht sammeln. (Paßt schlecht.)« (Ponge 1982, 34/35)