Q.
Quidditch, Flubberwürmer, Hobbits und Orks:
Über Enzyklopädien und Fantasyliteratur
Was sind Enzyklopädien?

Die alphabetisch strukturierte Enzyklopädie ist nicht die einzige und keineswegs eine selbstverständliche Form des Wissenskompendiums. Sie entsteht um 1700 im Zuge des Bruchs mit älteren Ordnungen des Wissens. Dem Thema Enzyklopädie ist eine rezente Publikation gewidmet, die Geschichte, Spielformen und Verwendungsweisen dieser Form des Wissenskompendiums erörtert: Paul Michel/Madeleine Herren/Martin Rüesch (Hg.): Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, 2003. Aachen 2007. (Die Website dazu: www.enzyklopaedie.ch).

Im einleitenden Beitrag (Paul Michel / Madeleine Herren: Unvorgreifliche Gedanken zu einer Theorie des Enzyklopädischen. Enzyklopädien als Indikatoren für Veränderungen bei der Organisation und der gesellschaftlichen Bedeutung von Wissen. S. 9ff.) heißt es u.a.: »Wir dürfen das Objekt [Enzyklopädie] nicht einfach aus der Warte eines modernen (etwa am Brockhaus geschulten) Werks konstruieren; Enzyklopädien in dieser Form gibt es (in Europa) erst etwa seit Anfang des 19. Jahrhunderts. In älteren Epochen unserer eigenen Kultur – und sicherlich auch in anderen Kulturen – gibt es ganz andere ›Inszenierungen‹ des Enzyklopädischen (die uns nur als merkwürdige Darbietungsformen in verschiedenen literarischen Gestalten vorkommen): Enzyklopädien in Form von Reiseberichten, einer Vita, einer Landkarte usw.« (Michel/Herren 2007, 12)

Welche Vorstellungen verbinden sich mit dem Stichwort »Enzyklopädie«? Michel / Herren schicken dem Band u.a. die folgenden Thesen voran:

»Enzyklopädien sehen wir als Zeugnisse des kollektiv Gewussten, Imaginierten – wobei bei auffälligen Lücken auch das Verdrängte von Interesse ist. Das Augenmerk liegt dabei nicht so sehr auf den gewussten Inhalten als auf den Bedingungen dafür, dass und in welcher Gestalt ein ›Wissensinhalt‹ in den Speicher kommt […]« (9).
»Enzyklopädien sind mehr oder weniger verzerrte Abbildungen dessen, was eine Gemeinschaft für wissenswert hält (›eine Gemeinschaft‹ kann sein: der Dominikaner-Orden, die humanistischen Gelehrten, die sich im 18. Jh. herausbildende Civil Society […])
Hinter dem, was wir in einer konkreten Enzyklopädie als Momentaufnahme fassen, steht ein Prozess: die Enzyklopädie ist der Aushandlungsort dessen, was als wissenswert gelten soll. […]
Wissen ist nur als Geordnetes verfügbar. Die Ordnungs-Systeme […] sagen ebensoviel über eine Kultur (oder ein Indivduum) aus wie das damit Geordnete […]« (Michel/Herren 2007, 10)

Die Benennung als »Enzyklopädie« ist weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium dafür, daß ein Informationswerk als Enzyklopädie gelten kann. (»Viele als enzyklopädisch aufzufassende Texte (aus der Vormoderne) tragen nicht den Titel ›Enzyklopädie‹, sondern zum Beispiel ›Schatzhaus‹, ›Goldgrube‹ oder ›Marktplatz‹. Umgekehrt können sich unter dem Titel ›Enzyklopädie‹ ganz andere Werke verstecken. Man denke auch daran, dass französische Enzyklopädien gerne als ›Dictionnaire‹ betitelt werden.“ Michel/Herren 2007,11). Die Werbebranche gebraucht den Ausdruck oft zu Vermarktungszwecken (also parasitär), wenn es um Überblicksdarstellungen oder sachliche Ratgeber geht.

Man kann einen Katalog von Eigenschaften aufstellen, die Enzyklopädien oft besitzen und die sie charakterisieren – wobei nicht jede Enzyklopädie alle Eigenschaften besitzen muß. Es gibt nicht den ›einen‹ Typus ›Enzyklopädie‹, wohl aber Familienähnlichkeiten der enzyklopädischen Werke untereinander. Nochmals Michel / Herren:

»Es gibt […] eine Reihe von Zügen, die nicht konstitutiv sind, sondern sich je nach Epoche lose mit dem enzyklopädischen Prinzip verbinden.
a) Enzyklopädien wollen umfassend sein […]. Freilich gibt es auch Enzyklopädien von Teilgebieten (z.B. nur Zoologie); dann aber werden diese umfassend ausgeschöpft. […]
b) Enzyklopädien möchten keine ungeordneten Haufen von Wissensbrocken sein; sie implizieren ein Ordnungsprinzip […], mit dem die unendlich vielgestaltige Fülle der Informationen organisiert wird. Keine Systematisierung vermag jedoch die Totalität isomorph abzubilden, sondern sie ist immer perspektivenhaltig. […]
c) Enzyklopädien wollen ›konsultiert‹ werden, das ist ein spezifischer Lesemodus. D.h. sie sind nicht auf linear erfolgende Ganzschriftlektüre angelegt […].
d) Enzyklopädien behaupten, gesellschaftlich relevantes Wissen anzubieten. […]
e) Enzyklopädien wollen objektiv sein. Zur Objektivität gehört: Gleichwertigkeit der Wissensbestände nebeneinander (schön realisiert durch das Gleichmacherische der alphabetischen Anlage) […].
f) Enzyklopädien geben vor, ohne fachliche Vorkenntnisse verständlich zu sein. – Dass sie ›niederschwellig‹ sind, mag stimmen, aber es ist eine Halbwahrheit, denn jedes Wissen kann nur auf der Basis eines Vorwissens […] verstanden werden. (14)
g) Enzyklopädien bieten aufbereitetes Wissen an. Das heisst: Sie beruhen nicht auf Grundlagenforschung, sondern beziehen die Informationen aus zweiter Hand, per Kompilation und Adaption. Das gespeicherte Wissen ist in der Regel nicht bis zu den Quellen der Wissensproduktion zurückzuverfolgen. Um der bequemen Konsultierbarkeit willen erlauben sie sich keine Diskussionen, Zerfaserungen, weisen nicht auf Aporien hin. – Immerhin wird bei einigen Enzyklopädien in den Artikeln auf Literatur verwiesen, welche an die Quellen der Wissensproduktion näher heranführt.
h) Enzyklopädien leiten nicht direkt zu einer Praxis an (deshalb scheitern Bouvard und Pécuchet), sondern beanspruchen zu zeigen, was der Fall ist. Das ist ein anderer Gestus.
i) Alle Enzyklopädien haben einen der Vermittlung von Wissen übergeordneten Anspruch; dieser kann indessen ganz verschieden sein: Lob Gottes durch Betrachtung der Schöpfung; Anlieferung von Material für die Predigt; Bereitstellung von Argumenten für die Rhetorik politischer Machthaber; Legitimation von Ordnung; Propagierung eines Fortschrittsmodells; Aufklärung des Menschen durch Einsicht in die Funktionsweise der Dinge; Ermöglichung einer gelungenen und geselligen Konversation durch Bereitstellung geeigneter unanstößiger Themen; Bereitstellung einer Basis zur Identifikation einer Gemeinschaft; Aufbau von Sozialprestige oder Ermöglichung politischer Emanzipation usw.« (13-14)

Ein solcher übergeordneter Anspruch mag auch der der Illudierung / Illusionsverdichtung sein: dann nämlich, wenn Wissen über erfundene Welten ausgebreitet wird.