D.
Darstellungsformen des Imaginären:
Jorge Luis Borges als Lexikograph
Nachbarschaften im sprachlichen Raum

Literarische Autoren können für Theoretiker des Wissens, der Wissenschaften und der Wissensdiskurse wichtige Bezugspunkte bieten, wo über Wissen, seine Darstellung und die Bedeutung dieser Darstellung reflektiert wird. Ein solcher Autor ist vor allem Jorge Luis Borges. Auf die prägende Bedeutung – und auf die Kontingenz! – der einem Lexikon zugrundeliegenden und von ihm widergespiegelten Ordnungsprinzipien hat Michel Foucault mit seinem seinerseits vielzitierten Vorwort zu »Die Ordnung der Dinge« (»Le mots et les choses«) hingewiesen. Foucault zitiert dabei Passagen aus einer von Jorge Luis Borges erwähnten (fingierten) »chinesischen Enzyklopädie«, wo verschiedene Wesen in einer Weise aufgelistet werden, die dem Leser abstrus erscheinen muß, weil sie konventionellen Vorstellungen über Struktur und Funktion solcher Auflistungen widerspricht, und wo durch ihre offensichtliche Willkür des Reihungsverfahrens letztlich auf die Kontingenz aller Ordnungssysteme aufmerksam gemacht wird. Die Welt ist so, wie man sie für sich und andere segmentiert, sortiert, kategorisiert, klassifiziert.

»Dieses Buch hat seine Entstehung einem Text von Borges zu verdanken. (...) Dieser Text zitiert ›eine gewisse chinesische Enzyklopädie‹, in der es heißt, daß ›die Tiere sich wie folgt gruppieren; a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden), k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.‹« (Foucault 1974, 17. Zitat aus: Borges: Die analytische Sprache von John Wilkins, in: ders. 1966, 212.)

Foucault spricht von der »schiere(n) Unmöglichkeit, das zu denken« (Foucault 1974, 17). Nur in einem sprachlichen Raum seien solche Nachbarschaften möglich.

»Die Monstrosität, die Borges in seiner Aufzählung zirkulieren läßt, besteht (...) darin, daß der gemeinsame Raum des Zusammentreffens darin selbst zerstört wird. Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten. Die Tiere, ›i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind‹, könnten sich nie treffen, außer in der immateriellen Stimme, die ihre Aufzählung vollzieht, außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt. Wo könnten sie nebeneinandertreten, außer in der Ortlosigkeit der Sprache. Diese aber öffnet stets nur einen unabwägbaren Raum, wenn sie sie entfaltet.« (Foucault 1974, 18f.)

Borges’ literarische Texte stehen zu weiten Teilen im Zeichen des Versuchs, solch sprachlich-literarische Räume zu schaffen, in denen das Heterogene und Unvergleichbare nebeneinandertreten. Dies gilt auch und gerade für diejenigen Bücher, in denen er lexikographische Ordnungsverfahren aufgreift und scheinbar übernimmt. Denn die Praxis des Ordnens macht dabei jeweils evident, daß sie den geordneten Inhalten und Gegenständen äußerlich bleibt: beruhend auf kontingenten Etikettierungen, in ihrer Abfolge abhängig vom jeweiligen Sprachraum – und völlig ungeeignet, die dargestellten Dinge in ihrer Rätselhaftigkeit und Unergründlichkeit zu erhellen. Was bleibt, ist die Stiftung von Nachbarschaften – über räumliche, zeitliche, kulturelle und kategoriale Grenzen hinweg – als der ostentative Versuch, etwas zu katalogisieren, das im Katalog dann wie ein Fremdkörper wirkt. Damit aber eben auch als ein Fremd-Körper, dessen tiefe Befremdlichkeit dort besonders hervortritt, wo er in der Gesellschaft von Nachbarn auftritt, mit denen er außer seinem kontingenten Wohnsitz nichts oder wenig verbindet.