G.
Getilgtes, Gebrauchtes, Abgenutztes, Ausgestorbenes, Verlorenes: Lexikographik des Verschwindens
Abfallsammlung zwischen literarischem Projekt und Künstlerbuch

M. Vänçi Stirnemann / Fritz Franz Vogel:
¿flickgut! Panne, Blätz, Prothese. Kulturgeschichtliches zur Instandsetzung. Marburg 2004

»Flickgut« ist ein als Künstlerbuch gestalteter Ausstellungskatalog. Das Stichwort »Flickgut« selbst ist mehrdeutig. Flickgut ist das, woran bzw. womit geflickt wird, aber man kann das Kompositum auch auflösen und als Imperativ lesen: Flick gut! oder aber als rudimentären Satz interpretieren: Flick(en) (ist) gut, als einen Satz also, der selbst zu flicken wäre, bis er wieder stimmt. Man könnte auch an die Bedeutung von »Gut«=Besitz, Guthaben denken und »Flickgut« als Hinweis auf den Kollektionscharakter des Buchinhalts deuten etc. Unter dem Stichwort »Flickgut« werden alltagsweltliche Gegenstände, Räumlichkeiten und Praktiken verschiedener Art vorgestellt bzw. ins Gedächtnis gerufen, die mit dem Reparieren kaputter Dinge, der Ausbesserung schadhafter oder der Korrektur mißlungener Objekte zu tun haben, mit dem Ausbessern von Defekten an toten und lebendigen Gegenständen, aber auch mit der Kaschierung von Brüchen, Schäden und Rissen. Vor dem Auge des Lesers und Betrachters – der Band ist opulent bebildert – ersteht eine Welt, an der die Zeit in vielfacher Hinsicht ihre Spuren hinterlassen hat und immer noch hinterläßt: beim Kaputtgehen und verrotten ebenso wie beim Geflicktwerden und der Schönheitsreparatur. Mannigfache Flicken, Narben, Reparaturspuren erscheinen als solche Spuren. Praktiken des Reparierens und entsprechende Hilfsmittel präsentieren sich als allgegenwärtig – und als eine Art geheimes Band, das eine durch und durch gebrechliche Welt notdürftig zusammenhält. Denn das ist der erste und dominierende Eindruck, den »flickgut« vermittelt: den der Gebrechlichkeit der Dinge und Einrichtungen – handle es sich um natürliche, gewachsene Gegenstände oder um menschliche Einrichtungen, um solche Objekte, die zum relativ schnellen Ge- und Verbrauch bestimmt sind, oder um solche, die eigentlich für die Dauer produziert wurden. Alles, aber auch alles, was hier ausgebreitet wird, ist auf eine am Äußeren ablesbare Weise dazu bestimmt, den sogenannten Weg aller Dinge zu gehen. So gesehen, ist die dargestellte Welt ein zumindest virtueller Abfallhaufen, dem freilich die emsigen und einfallsreichen Flicker mit ihrem Flickgut beharrlich Widerstand leisten, so wie sich die diese Abfall-Welt bewohnenden Krüppel und Wracks immer wieder ihre Krücken und Flicken suchen.

Die typographische Gestaltung des Bandes unterstreicht die Idee des Deformierten, Beschädigten; Einband, Titelblatt und viele Überschriften sind in einer Weise gedruckt, die einen fehlerhaften Druck (durch verschwommene Umrisse der Drucktype, die im Impressum als »GrossAkzidentFucked« ausgewiesen wird) suggeriert und vage an Frakturschrift erinnert. (Die hier dargestellten Inhalte haben diversen Ausstellungen zugrundegelegen (Winterthur 2004, Berlin 2005, Memmingen 2006; vgl. auch www.flickgut.ch). Vieles und Heterogenes ist im reichhaltig illustrierten Band zu sehen, das sich der Erfassung in einer kurzen Liste entzieht: Bilder geflickter Kleidungsstücke und anderer Textilien, von Praktiken des Nähens und Flickens, von Instrumentensammlungen für Reparateure, von geflickten Straßen, Gebäuden, Geräten aller Art.

Ob die über die Buchseiten sich erstreckenden Photosequenzen nun notdürftig ausgebesserte Häuser, Fahrzeuge, Rohrleitungen zeigen – ob es um Müllsäcke und Abfälle geht, um abgerissene Gebäudeteile und Bauschutt, um zerbrochene Scheiben, abgerissene Tapeten, Straßenbaustellen, geschlossene Mauerlücken, kaputte Zäume oder kaputte Landschaften – deutlich wird immer wieder eins: Wir leben in einer durch und durch geflickten und immer wieder flickbedürftigen Welt. Dazu gehören nicht nur reparierte Asphaltdecken und Jeans, sondern auch die mit Rotstift-Korrekturen versehenen Manuskriptseiten, die sich im Band reproduziert finden, dazu gehören auch Institutionen wie Gefängnisse und Besserungsanstalten, deren Einrichtungen und Personal im Band durch Photos repräsentiert sind. Zum Glück gibt es ja so viel Flickgut: vom Polizisten bis zum Tesafilm, von der Handschelle bis zum Hörgerät.

Während die Bilder ihre Botschaft – alles mögliche ist kaputt, alles mögliche ist reparaturbedürftig – meist mit unmittelbarer Evidenz übermitteln, lassen die Titel der einzelnen Artikel des alphabetisch strukturierten Textteils vielfach zunächst stutzen. Was Collagen und Therapien, Panzerbrücken und Lesehilfen mit Reparaturbedürftigkeit, Ausbesserungsprozessen und Kompensationen zu tun haben, mag ja noch schnell einleuchten – aber was ist mit dem »Lemma«, dem »Hobby«, Ernst Bloch, dem »Beispiel« etc.? Erst der Artikeltext stellt in diesen und anderen Fällen die Beziehung zum Generalthema her – als Flickstück zwischen Stichwort und Flickenwelt gleichsam. So ist der »Ablass« eine »religiöse Flicktechnik«, die »Absolution« (nach der Beichte) eine »Entschuldung vor Gott«, die »soziale Ader« ein kompensatorischer Habitus. Der Ausdruck »keine Ahnung« weist auf eine vielleicht zu stopfende Wissenslücke hin – und das »Conversationslexikon« dient dazu, Wissenslücken zu stopfen... Eine prominente und gleichsam leitmotivische Rolle nehmen solche Bilder und Artikel ein, die den Ausbesserungsarbeiten an solchen Schäden gelten, die den menschlichen Körper betreffen: »flickgut« enthält vielfache und wahrhaft eindringliche Illustrationen aus der Heilkunde, der Chirurgie, insbesondere der Wund- und Transplantationschirurgie, Graphiken und Photos von Haut- und anderen Organkrankheiten, von Verletzungen und Verstümmelungen, von Wunden und narben, von Mißbildungen und von Techniken ihrer Kompensation, von Prothesen und anderem Flickmaterial bringen dem Leser, ob er es nun will oder nicht, zu Bewußtsein, daß er selbst auch nichts anderes als aktuelles oder potentielles Flickgut ist.

Damit der Leser auch selbst etwas gegen die Zeit und die Zerbrechlichkeit der Dinge tun kann, wird er am Ende des Buches mit einigen konkreten Objekten ausgestattet, die sich in einer Papiertasche an der Innenseite des hinteren Buchdeckels finden. Ein Heft mit karierten Blättern, auf dem Schadensskizzen gezeichnet sind (es handelt sich um eine Reklamebroschüre für eine Versicherungsgesellschaft: »Die Mobiliar. Versicherungen & Vorsorge«, die in den »Schadensskizzen« mögliche Ursachen für Haftpflicht- und andere Schäden durch Strichmännchen repräsentiert), einen Reklameprospekt der Firma Henkel für die Klebstoffe Pattex, Pritt und Ponal, einen separaten Prospekt für Pattex, eine alphabetische Liste mit Verben, welche allesamt Vorgänge des Reparierens und Flickens bezeichnen, eine Sicherheitsnadel – und ein großes Pflaster, das den Leser an die eigene Verletzlichkeit erinnert.

Literatur

du. Zeitschrift für Kultur. »Liftboy, der. Ein Alphabet des Verschwindens« 782, Dez. 07/Jan. 08.

Aermes, Carsten / Zeckau, Hanna: Brehms verlorenes Tierleben. Illustriertes Lexikon der ausgestorbenen Vögel und Säugetiere. Mit einem Vorwort von Josef H. Reichholf, 60 Monografien aus Brehms Tierleben, 70 farbigen Bildtafeln und 3 Übersichtskarten. Frankfurt a.M. 2007. [Aermes/Zeckau 2007]

Bartens, Werner / Halter, Martin / Walther, Rudolf (Hrsg.): Letztes Lexikon. Mit einem Essay zur Epoche der Enzyklopädien. Frankfurt a.M. 2002. [Bartens/Halter/Walther 2002]

Mrozek, Bodo: Lexikon der bedrohten Wörter. Berlin 2005. [Mrozek 2005]

Stirnemann, M. Vänçi / Vogel, Fritz Franz: ¿flickgut! Panne, Blätz, Prothese. Kulturgeschichtliches zur Instandsetzung. Marburg 2004.