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Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Die Wörter-Liste als poetische Form: »Ein Chinesisches Wörterbuch«

Ein Text aus der Erzählsammlung »Überseezungen« trägt den Titel »Ein Chinesisches Wörterbuch« (Tawada 2002, 31). Das klingt, als sei damit die Signifikantenebene bezeichnet, tatsächlich aber bezieht sich der Titel auf die Inhalts-Ebene. Der Text selbst ist gar kein chinesisches Wörterbuch (auch dem Umfang nach nicht; es handelt sich eher um eine kurze Wörterliste), sondern ein ausschließlich deutsches Wortgebilde, das allerdings aus der Konsultation eines chinesischen Wörterbuchs hervorgegangen ist. Jeweils einem Wort aus der deutschen Sprache steht hier die wörtliche deutsche Übersetzung desjenigen Ausdrucks gegenüber, den die chinesische Sprache für dasselbe Signifikat bereithält. Der buchstäbliche Sinn des chinesischen Ausdrucks erscheint somit in der Gestalt einer intrasprachlichen (deutschen) Übersetzung. Auf die rechte und die linke Seite verteilt scheinen wir Vokabeln aus zwei verschiedenen deutschen Sprachen zu sehen; das Deutsche selbst ist hier also offenbar nicht ganz mit sich selbst eins – das Chinesische ist sozusagen dazwischengekommen.

»Pandabär: große Bärkatze
Seehund: Seeleopard
Meerschweinchen: Schweinmaus
Delphin: Meerschwein

Tintenfisch: Tintenfisch

Computer: elektrisches Gehirn
Kino: Institut für elektrische Schatten
schwindelerregend: in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht
Ohnmacht: Abenddämmerung der Vergangenheit«

Die »übersetzten« Dinge verwandeln sich offenbar durch die Manipulation ihrer Namen: Aus einem »Pandabär« wird eine »große Bärkatze«, aus einem Seehund ein »Seeleopard« etc. Keine Kongruenzen, aber Konvergenzen: Es scheint, als bestünden zwischen den beiden Seiten des Spielfeldes Verwandtschaftsbeziehungen. Namensähnlichkeiten machen die deutschen und die ins Deutsche übersetzten chinesischen Tiere zur Sippe. Gelten die ersten vier »Wörterbuch«-Zeilen Tiernamen, also den Bezeichnungen lebendiger Wesen, so geht es mit den letzten vier Zeilen um Objekte, eine Eigenschaft und einen Zustand. Was im konventionellen Deutsch einen unauffälligen Namen hat, wird im ›chinesischen‹ Deutsch jeweils metaphorisch bezeichnet. Schon durch ihre Metaphorizität machen die Ausdrücke auf sich aufmerksam. Wie in einer Beispielsammlung werden hier verschiedene rhetorische Verfahren illustriert: Offenbar ist das »Chinesische Wörterbuch« ein Mini-Kompendium von rhetorischen Formen und poetischen Sprechweisen. Die metaphorischen Ausdrücke deuten an sich leblose Objekte als lebendige Wesen (der Computer wird zum »elektrischen Gehirn«) oder sie verschmelzen Lebloses und Lebendiges miteinander (das Kino erweist sich als »Institut für elektrische Schatten«). Sie umschreiben eher Banales blumenreich (eine Ohnmacht erscheint als »Abenddämmerung der Vergangenheit«) und sie ersetzen einfache Adjektive wie »schwindelerregend« durch ein komplexes Bild (»in den Augen blühen unzählige Blumen in voller Pracht«). Dieses »Wörterbuch« leitet dazu an, Alltagssprachliches in eine ›andere‹ Sprache zu transformieren. Das solcherart Transformierte ist dann nicht mehr dasselbe.

Im Rahmen von einer solchen poetologisch-reflexiven Lesart des Textes erscheinen die zusammengetragenen Ausgangswörter nicht beliebig gewählt. Im Ensemble spielen sie auf eine Sphäre der Imaginationen und Träume an, in der sich vermeintlich Vertrautes und Banales verwandelt, bis hin zu Schwindel und Orientierungsverlust – zum Dämmerzustand, in dem Vergangenes (ver)schwindet, um neuen Erfahrungen Platz zu machen. Umschrieben werden also die Effekte genuin ästhetischer Erfahrungen. In Tawadas Texten sind technische und visuelle Medien wie Computer und Kino Orte der Erscheinung von Geistern, der magischen Transformation, der derealisierenden Entgrenzung von Wirklichem und Imaginärem – bis hin zur Absorption des Ichs durch die Welt der medialen Simulacren. In eben dieser schwindelerregenden Eigenschaft spiegeln sie aber den poetischen Sprachgebrauch, der eine Brücke vom Alltäglichen zum tief Befremdlichen schlägt und die Grenze zwischen Realität und Traum verwischt.