F.
Falsche Paratexte: zur poetischen Funktion lexikographischer Passagen in Romanen
Christoph Ransmayr: »Die Letzte Welt. Mit einem Ovidischen Repertoire« (1988)

Unter freier Verwendung von Motiven aus dem Leben des ans Schwarze Meer verbannten römischen Dichters Publius Ovidius Naso und unter zahlreichen intertextuellen Anspielungen auf dessen Werke, vor allem auf die »Metamorphosen«, erzählt der Roman die fiktive Geschichte der Suche eines Römers (Cotta) nach dem verschollenen Ovid. Cotta findet von den »Metamorphosen« nur Bruchstücke, erhält von den Bewohnern des Verbannungsortes Tomi unterschiedliche Hinweise auf die Erzählungen Ovids, und der Dichter bleibt verschwunden. »Die letzte Welt« ist, obwohl sich Ransmayr kritisch vom Konzept des Postmodernismus distanziert hat, wiederholt als exemplarisch postmoderner Roman gedeutet worden, insbesondere als Parabel über den Tod des Autors, die Fragmentierung aller Texte und die Dissoziation alles Geschriebenen in Lesarten. Allerdings ist der Roman selbst kein Fragment. Im Gegenteil: am Schluß wird mit auktorialem Gestus sortiert und erläutert, was an literarischen Zitaten und Reminiszenzen in den Roman eingegangen ist: Im »Ovidischen Repertoire« finden sich alle Figuren, alphabetisch sortiert, simultan versammelt und werden kommentiert. Das »Repertoire« ist zweispaltig gedruckt. In der einen Spalte wird die Geschichte der Figur, so wie sie im Roman vorkommt, nacherzählt. In der anderen finden sich Angaben zur Geschichte der Figur, wie sie sich auf der Basis der Ovidschen Werke, insbesondere der »Metamorphosen« darstellt.

Damit ist das Repertoire einerseits ein Kommentar zum Roman, andererseits dessen Fortsetzung mit anderen Mitteln. Denn auch hier werden Geschichten erzählt und nacherzählte Geschichten ausgesponnen und ausgelegt. Man mag in diesem »Repertoire« eine Serviceleistung für den Leser sehen, eine ironische Hommage an den bildungsbeflissenen Leser, eine »Light«-Version der »Metamorphosen«, aber auch einen integralen Teil des Romans selbst. Hierfür spricht unter anderem, daß auch das »Repertoire« fiktionale Elemente enthält, wie den Hinweis auf den angeblichen Selbstmord eines römischen Schauspielers nach dem Verriß seiner Darstellung des Ceyx im Film (LW 296). N. Kaminski (165) weist darauf hin, daß im Repertoire zwar teilweise wörtlich die zur Charakteristik der Figuren innerhalb des Romans verwendeten Formulierungen verwendet werden (etwa im Fall des Cyparis), dabei aber das, was im Roman im Präteritum erzählt wurde, im Repertoire im Präsens steht (Nicola Kaminski: Ovid und seine Brüder. Christoph Ransmayrs ›Letzte Welt‹ im Spannungsfeld von ›Tod des Autors‹ und pythagoreischer Seelenwanderung. In: arcadia 37 (2002) Heft 1, 155-172). Diese Differenz signalisiert den Unterschied zwischen der vom Roman thematisierten Zeitordnung historischer Ereignisse (die auch keineswegs einfach linear verlaufen) und der mythischen Zeit, einer dauerhaften Gegenwart.

Den Bildern des Untergangs, des Verschwindens, der Auflösung, die den Roman leitmotivisch prägen, wird mit dem Repertoire eine geordnete Welt gegenübergesetzt. Hier finden sich die wandelbaren Figuren der Ovidschen Welt und der »letzten Welt« in Katalogform erfaßt; sie werden durch Beschreibungen interpretiert; die dem Roman zugrundeliegenden Vorgängertexte werden lesbar gemacht. Indem von einer verrottenden, untergehenden, zerfallenden und sich auflösenden Welt die Rede ist, stellt sich der narrative Prozeß dem Zerfall doch gerade entgegen, und gerade die paratextuellen Betsandteile des Romans unterstreichen dies. Daß das Erzählen einen Ordnungsprozeß darstellt, in dessen Verlauf »Welt« neu geschaffen wird, hat Ransmayr explizit in seiner Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises hervorgehoben: »Wovon immer er spricht – in seiner Geschichte, in seiner Sprache muss der Erzähler alle Welt noch einmal erfinden, noch einmal und immer wieder erschaffen.« (Christoph Ransmayr: Die Erfindung der Welt. Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises. In: Uwe Wittstock (Hg.): Die Erfindung der Welt. Zum Werk von Christoph Ransmayr. Frankf/M. 1997, S. 200) Durch die Gegenüberstellung von Bildern des Zerfalls und Bildern der Ordnung stellt sich der Roman selbst auf eine Ebene oberhalb dieser Dichotomie und hebt selbst sie noch in sich auf. Das »Repertoire« in seiner scheinbar bloß rahmenden und ergänzenden Funktion hat daran erheblichen Anteil.