I.
Imaginäres im Spiegel seiner Lexikographik

Literarische Kompendien in Lexikonform arbeiten vielfach darauf hin, die allgemein geläufige Leitdifferenz von Fiktion und Nichtfiktion zu unterlaufen. In vielen Fällen hat Borges erkennbar Pate gestanden.


Topographien des Imaginären

Alberto Manguel / Gianni Guadalupi
«The Dictionary of Imaginary Places«, Toronto 1980. Dt.: »Von Atlantis bis Utopia«
München 1981

Verzeichnet das Borgesianische Lexikon der Fabelwesen unter seinen Beständen das Einhorn neben dem Panther, den Odradek neben dem Pelikan, so finden sich in Alberto Manguel und Gianni Guadalupis »Dictionary of Imaginary Places« (zuerst 1980) beispielsweise Artikel über Paris und über Tolkiens Mittelerde. Hier werden die in literarischen Texten geschilderten Schauplätze porträtiert: in alphabetischer Ordnung, beginnend mit Abaton, dargestellt in Sir Thomas Bulfinchs fiktiver Reisebeschreibung aus »My Heart’s in the Highlands« (Edinburgh 1892), endend mit Zuy, einem in den Niederlanden lokalisierten Elfenreich, wie es von Sylvia Townsend Warner in »Kingdoms of Elfin« (1972) beschrieben wird. Einleitend betonen die Herausgeber die Problematik des Unternehmens, zwischen imaginären und nicht-imaginären Orten differenzieren zu wollen. Natürlich gibt es literarisch geschilderte Orte, die auf keiner Landkarte außerhalb der Literatur zu finden sind. Aber welchen Status im Spannungsfeld zwischen Empirie und Imagination haben Orte, die zwar auf Landkarten verzeichnet sind, in literarischen Texten aber ein ganz spezifisches Gesicht erhalten? Und welchen Status haben Orte, die man als »Landkarten-Orte« wiedererkennt, die im literarischen Kontext aber einen anderen als den vertrauten Namen zugewiesen bekommen? Was ist mit »Proust’s Balbec, Hardy’s Wessex, Faulkner’s Yoknapatawpha and Trollope’s Barchester« (Manguel/Guadalupi 1980, X)? Was geschieht bei der Verwendung vertrauter Ortsnamen für erfundene Orte? Manguel und Guadalupi machen keinen Hehl aus den Vorentscheidungen, die zu treffen waren, wenn das Lexikon zustande kommen sollte, und aus den Kontingenzen, die dabei im Spiel waren.
Manguels und Guadalupis lexikographische Darstellungen zu literarischen Figuren und Orten präsentieren ihre Gegenstände so, als seien sie wirklich. So unterlaufen sie die allgemein geläufige Leitdifferenz von Fiktion und Nichtfiktion. Alberto Manguel ist in dieser Hinsicht stark von Borges geprägt.