W.
Wirkliche und Mögliche Welten
Konstruktivistische Positionen und die Frage nach der Poetik des Wissens

Das Interesse der Wissenschaftstheorie hat sich gerade in letzter Zeit verstärkt derjenigen Dimension wissenschaftlicher Darstellungsverfahren zugewandt, die man die ›ästhetische‹ nennen könnte. Starke Resonanz fand der konstruktivistische Ansatz des Historikers Hayden White, der historische Erzählungen als »verbal fictions« charakterisiert – als Fiktionen, –deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften. (Vgl. White 1994, 124f –White 1987, Preface p. X/XI).

Durch verschiedene Spielformen lexikographischer Ordnung lassen sich verschiedene Welten erzeugen. Dies korrespondiert der Kernthese konstruktivistischer Erkenntnistheorien, daß es das Wissen nicht mit einer strukturierten Totalität von Gegenständen, sondern mit Welten zu tun hat, welche jeweils erst im Prozeß ihrer Erkundung und Darstellung Gestalt annehmen. Werner Heisenberg hebt hervor, daß die sogenannten exakten Naturwissenschaften nicht mehr beanspruchen können, Natur objektiv abzubilden; was sie abbilden, sei vielmehr die Beziehung des Beobachters selbst zur Natur, die aber der Veränderung unterliege (Heisenberg 1989 (erstmals 1955), 111f.).

Nicht nur die Geschichtswissenschaft begreift sich als Erzähl-Kunst. Das Selbstverständnis ganz verschiedener Wissensdisziplinen artikuliert sich rezenten Positionsbestimmungen zufolge in der Überzeugung vom narrativen Charakter wissenschaftlicher Darstellungsverfahren; Wissenschaft – so die These – sei »Welterzählung« und erzeuge eine narrative Ordnung der Dinge. Literarische und künstlerische Experimente mit konventionellen Darbietungsformen wissenschaftlichen Wissens deuten gleichfalls – gleichsam ›von der anderen Seite‹ – auf Affinitäten, Analogien und fließende Übergänge zwischen den Territorien der Wissenschaft und der Literatur hin. Zu diesen literarisch genutzten und erkundeten Formen der Wissensaufbereitung und -vermittlung gehören namentlich die Liste, das Lexikon und die illustrierte Enzyklopädie, das Wörterbuch, der Atlas.