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Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Michel Leiris: »Glossaire j’y serre mes gloses«

Michel Leiris hat ein umfangreiches, phantastisches »Glossaire« vorgelegt: »Glossaire j’y serre mes gloses« (Dt. Auszüge in: Michel Leiris: Wörter ohne Gedächtnis. Große Schneeflucht. Aus dem Französischen v. Simon Werle u. Dietrich Leube. Mit einem Beitrag von Felix Philipp Ingold. Hg. v. Hans-Jürgen Heinrichs. Frankf./M. 1991, 112-115.). Unter dem Buchstaben A finden sich u.a. folgende Einträge, an denen die Verfahrensweise des Dichters ablesbar wird: Er deutet (durch anagrammatische und andere Verfremdungen) konventionelle Vokabeln als Kürzel für komplexe und oft rätselhafte Ausdrücke:

»ABÎME – vie secrète des amibes
ABONDANCE – (non-sens, sans l’abandon)
ABRUPT – âpre et brut
ABRUTI, abrité
ABSENCE – espace vacant, d’un banc de sable qui s’en va...
ABSOLU – base unique : sol aboli
ACADÉMIE – macadam pour les mits
ACCALMIE – lame de mica tranquille
ACCIDENT – phénomène en dents de scie (la scie est l’axe)
ACCOUPLEMENT – poulpe d’amants, en coupe
ACROBATE – embarqué de bas en haut, de haut en bas, il bat du corps et baratte l’air sans accrocs
ACTE, attaque
AGONIE – je divague, j’affirme et je nie tour à tour, honni par l’âge qui m’est une dague
AIGLE – angle d’ailes […]« (Leiris 1991, 112)

Simon Werle, Übersetzer und Kommentator des »Glossaire«, spricht vom Vorstoß des Dichters Leiris »in den Binnenraum der Sprache« (Simon Werle: Nachbemerkung zur Übersetzung, in Leiris, 93f, hier 94. Vgl. auch Felix Philipp Ingold: ›Übersetzung‹ als poetisches Verfahren. In: Leiris 1991). Felix Philipp Ingold charakterisiert in seiner Interpretation zu Michel Leiris’ Buchstabenspielen, Wortverdrehungen und homonymen Doppellesarten das »Glossaire« als eine »lautliche Übertragung«, die auch als »anagrammatischer Kommentar« gelesen werden könne (Ingold, in Leiris 1991, 102). Die Idee, quasi-anagrammatische Wort-Spiele als innersprachliche Übersetzungen zu betrachten, impliziert für Ingold, daß das spielerisch zutage Geförderte in der Sprache selbst »steckte«, so wie eine Aussage in einem zu übersetzenden Text steckt und durch Übersetzung aus diesem »heraus« geholt wird. Suggeriert wird die Existenz verborgener Sprach-Schätze, die man durch Manipulationen an Wortklang- und am Buchstaben-Material aus den konventionellen Sprachbeständen herausholen kann. (Der Vergleich des Dichters mit einem Übersetzer ist bei Ingold eine Umschreibung seiner These von der Sprach-Abhängigkeit des Dichters. Der Dichter ›übersetzt‹ das, was er an bereits existenten sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten vorfindet, in seine eigene Sprache, die durchaus ›fremd‹ klingen kann. Er weiß sich dabei der Sprache verpflichtet, die er vorgefunden hat. Ob Leiris selbst wirklich, wie es diese post-auktorial inspirierte Interpretation will, die Autorschaft ostentativ an die Worte delegiert, läßt sich übrigens keineswegs eindeutig entscheiden. Denn ebensogut könnte man behaupten, er demonstriere durch seine an den Wörtern vorgenommenen Transformationen die Autorität dessen, der sich ein Wörterbuch aneignet – die Fähigkeit zur Verwandlung des Vorgefundenen.)

Im konventionellen Sinn übersetzbar ist das »Glossaire« natürlich nicht; jeder Transfer in eine andere Sprache ist eine Fortsetzung des Unternehmens. Simon Werle hat einen Versuch unternommen, »eine deutsche Version von Leiris’ Glossaire« vorzulegen (Leiris 1991, 93).
Aus seinem Versuch:

Abenteuer Rabeneuter
Abgebrüht rüde über Gebühr
Abgrund Grab und Bad
Abrupt ruppig und brutal
Absenz absinkende Sandbank
Absolut blutlose Taube
Abspulen Lupen basteln
Abundanz zu bunter Zaun
Achseln Elle der Sachsen

Simon Werle schreibt in seiner Nachbemerkung zur Übersetzung (in Leiris 1991, 93): Leiris’ Glossaire sei »ein subjektives Lexikon in Gestalt einer alphabetischen Auflistung von Wörtern, die Leiris nach den Verfahrensweisen des Anagramms, der Metathese, ja des Kalauers in ihre lautlichen Elemente zerlegt und dann durch die Rekombination dieser Elemente mit neuen, oft überraschenden oder abgründigen Bedeutungen belädt. Diese Manipulation des Signifikanten erschöpft sich jedoch nicht in einem mechanischen Wortspiel, sondern bringt in jener Zone von Arbitrarität, die sich zwischen Ausgangsterm und dessen analytisch gewonnenem Äquivalent eröffnet, eine subjektive Logik zur Entfaltung, durch die die Sprache sich gleichsam mit poetischem Potential auflädt. […]« Wie übersetzt man so einen Text? »Die Übersetzung konnte lediglich das Vokabular an Grundwörtern und die analytische Verfahrensweise des Originals übernehmen. Die deutschen Entsprechungen von Leiris’ Basiswörtern wurden erneut in alphabetische Reihenfolge gebracht und anschließend nach den Möglichkeiten der deutschen Wortbildung zergliedert und auf mögliche Ableitungen in relativer Nähe zu den französischen Vorgaben untersucht. Die zahl der semantischen Äquivalenzen zwischen den so gewonnenen deutschen (94) Neuschöpfungen und denen des Originals blieben dabei – bis auf den seltenen Fall homonymer Begriffe in beiden Sprachen – erwartungsgemäß sehr gering. Es wurde aber versucht, Leiris’ Grundvokabular und bestimmte stets wiederkehrende Assoziationsketten zu respektieren […].« (93-94)

Der Übersetzer hat also die Spielregel aufgegriffen, die Leiris aufgestellt hatte, und im Rahmen seiner eigenen, der deutschen Sprache weitergespielt.

Die poetischen Wortlisten von Leiris ähneln in ihrer Zeilenform strukturell lyrischen Texten. Andere Lyriker, darunter Ernst Jandl haben ebenfalls an die Wörterbuch- oder Wortlistenform angeknüpft (z.B. mit »chanson«: vgl. Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Darmstadt/Neuwied 1985, 18-20).