I.
Imaginäres im Spiegel seiner Lexikographik
Kunst-Geschichte des Imaginären

Koen Brams: Erfundene Kunst, Eine Enzyklopädie fiktiver Künstler von 1605 bis heute
Aus d. Niederl. v. Christiane Kuby u. Herbert Post
Frankfurt a. M. 2003 (niederländ. Original 2000)

Ein Nachschlagewerk über imaginäre Gegenstände ist auch das von Koen Brams publizierte Lexikon »Erfundene Kunst«. Die hier vorgestellten Künstler sind Figuren aus Romanen, Novellen, Schauspielen. Er präsentiert in diesem Lexikon in alphabetischer Folge Artikel über solche Künstler, die in literarischen Texten auftreten, in Romanen, Novellen, Erzählungen, Schauspielen – sei es als Hauptfigur, sei es in einer Nebenrolle. Anläßlich der Erläuterung der Kriterien, denen die Auswahl der zu porträtierenden Künstler unterlag, nennt Brams die Wichtigkeit dieser Künstler, nicht ohne zu betonen, daß »Wichtigkeit« nach verschiedenen Kriterien beurteilt werden kann. Eines davon ist die Bedeutung erfundener Künstler für die wirkliche Kunstgeschichte.

»Der Maler Frenhofer [...] in Balzacs Erzählung ›Das unbekannte Meisterwerk‹ inspirierte nachweislich Paul Cézanne und Pablo Picasso. Er ist somit ein wichtiger fiktiver Künstler, einflußreicher vielleicht als mancher reale.« (Brams 2003, 8)

Nicht allein also, daß die Grenze zwischen imaginären und nichtimaginären Gegenständen des Wissens unbestimmbar ist; sie kann sogar im Sinne einer Einwirkung imaginärer Charaktere auf die sogenannte Realität durchbrochen werden.
Das Lexikon beginnt mit einem gewissen Adam Adams, einem amerikanischen Maler, der in einem Roman des Niederländers Frans Kellendonk von 1986 auftritt; es folgt ein Kurzporträt des Miniaturenmalers Adelmo, der – allerdings nur als bereits Ermordeter – eine Rolle in Umberto Ecos Roman »Il nome della rosa« (1980) spielt.

»ADELMO *Otranto, Italien; + November 1327
Miniaturenmaler. Er kam jung unter mysteriösen Umständen ums Leben – vermutlich durch Selbstmord. Adelmo, der seine Kunst in England und Frankreich erlernt hatte, arbeitete in einer norditalienischen Abtei, die im 14. Jahrhundert die größe Bibliothek der Christenheit besaß. Obwohl er dem Bibliothekar Malachias von Hildesheim zufolge wegen seines jugendlichen Alters nur die Ränder der Manuskripte bemalte, war er schon zu Lebzeiten als exzellenter Miniaturenmaler bekannt. Der Überlieferung nach war Adelmo ein selbstbewußter Künstler, der oft über sein Metier diskutierte [...]. Er war der Ansicht, daß seine Kunst, ›trotz Darstellung wunderlicher und phantastischer Dinge dem Ruhme Gottes diene als mittel zur Erkenntnis der himmlischen Dinge‹.« (Brams 2003 zu: Umberto Eco, Il nome della rosa, dt.: Der Name der Rose, 1980)

Der Leser des Lexikons lernt viele bildende Künstler kennen oder trifft sie wieder, Maler und Grafiker, Puzzlemacher und Puppenschnitzer; Gestalten aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit. Was sie alle verbindet, ist ihr Status als Figuren in fiktionalen literarischen Texten. In seiner Einleitung benennt Brams ein wichtiges Motiv für die zugestandenermaßen sehr selektive Lektüre, welche einer solchen Zusammenstellung von Porträts fiktiver Künstler zugrundelag:

»Indem man sich auf das Leben und die Aussprüche einer einzigen Figur konzentriert, ist einem gleichsam ein Blick in die Werkstatt des Autors vergönnt. Denn in der Beschreibung der Erlebnisse und Ansichten eines erfundenen Künstlers sind oft zugleich auch die Ansichten des Autors über sein Handwerk enthalten.« (Brams 2003, S. 7)

Vorgeschlagen wird also, von den Ansichten des fiktiven Künstlers auf ästhetische Anschauungen des Autors zu schließen. Nun wäre es gewiß übereilt, die im literarischen Text geäußerten Meinungen eines Künstlers als die Meinungen seines literarischen Erfinders zu betrachten, denn fiktive Figuren sind ja keineswegs selbstverständlich das Sprachrohr der Autoren selbst; sie können ganz andere Anschauungen haben als diese, etwa wenn sie zu satirischen Zwecken erfunden wurden und vom Autor verwendet werden, um eine nach seiner Meinung falsche, bornierte oder auf andere Weise unzulängliche Idee über die Kunst bloßzustellen. Aber die Arbeitshypothese, daß der werkinterne Künstler und der werkexterne Autor dieselben Fragen zum Thema Kunst für wichtig, dieselben Aspekte für maßgeblich halten, erscheint durchaus sinnvoll. Auch und gerade wenn ein Autor einen erfundenen Künstler Dinge sagen läßt, die er für falsch oder beschränkt hält, ist diese Aussage ja nicht funktionslos, sondern dient dazu, auf dem Weg der Umkehrung andere – für den Autor plausiblere – Anschauungen über die Kunst zu vermitteln. Auch kann es sein, daß ein Künstler für den Autor, der ihn erfindet, zum Anlaß wird, die Situation von Kunst und Künstlern modellhaft und exemplarisch zu bespiegeln – die Motive und Bedingungen künstlerischen Schaffens, die Beziehung des Künstlers zu seinem Werk und zu seinem Publikum, die Rezeption künstlerischer Werke, ihre Beziehung zur Sphäre der historischen Realität und anderes. Mit all dem geht es – wie Brams zu Recht andeutet – direkt oder indirekt immer auch um die Frage: Was ist Kunst?
Ein spezifisches Problem, vor dem die Verfasser des Lexikons erfundener Künstler standen, lag in der Differenzierung zwischen solchen Künstlern, die tatsächlich ganz und gar erfunden waren, ihre Namen, Lebensgeschichten und Werke inbegriffen, und solchen Figuren aus literarischen Texten, bei denen Name, Werk oder Lebensgeschichte aus der sogenannten historischen Wirklichkeit entlehnt waren. Nicht allein, daß die Grenze zwischen erfundenen und nicht-erfundenen Figuren in manchen Fällen schwer bestimmbar ist; sie kann sogar im Sinne einer Einwirkung imaginärer Charaktere auf die sogenannte Realität durchbrochen werden. Brams nennt als Beispiel ja Balzacs Frenhofer.

Eine Anmerkung: Für Autoren, Dichter, Schriftsteller, die in literarischen Texten auftreten, stellt sich ein analoges Abgrenzungsproblem hinsichtlich der Unterscheidung erfundener und nicht-erfundener Gestalten. So ist es beispielsweise möglich, daß ein lebendiger Autor seine Figur Ideen und Anschauungen äußern läßt, die seinen eigenen genau entsprechen. Dann ist die erfundene Figur so etwas wie seine Maske, und insofern sie nur einen anderen Namen trägt als der Autor selbst, ist sie als derjenige, der jene Ideen und Anschauungen äußert, im strengen Sinn keine ganz und gar erfundene Figur. Auch können in die Darstellung fiktiver Gestalten biographische und natürlich auch autobiographische Daten einfließen, literarische Figuren also ähnliche Lebensgeschichten haben wie wirkliche – wo soll man hier also die Grenze ziehen zwischen dem Erfundenen und dem Nichterfundenen? Die Namen historischer Autoren können auf erfundene Figuren übergehen; Porträts historischer Autoren können mit erfundenen Namen verknüpft werden – und so fort. Man könnte die radikale These vertreten, jede Figur, die in einem Text Gestalt annimmt, sei als Produkt sprachlicher Darstellung eine erfundene – im Sinne von: eine konstruierte – Figur. Das würde bedeuten, daß ein Autor, der in einem autobiographischen Text einen Bericht über sich und seine Arbeit abgibt, zu den »erfundenen Autoren« gehören würde. Immerhin nennt Thomas Mann seine Schrift »Die Entstehung des Doktor Faustus«, in der es um die Jahre der Arbeit am Roman »Doktor Faustus« geht, den ›Roman eines Romans‹. Was für eine Figur ist demnach der hier zur Sprache kommende Autor Mann? Eine Romanfigur?