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Das Phantásien-Lexikon
Sachbuch und Fortsetzung der Fiktion mit lexikographischen Mitteln: Ein Lexikon über Michael Endes »Phantásien«

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Insofern Ende selbst sich bei Äußerungen, die das Thema Literatur und Schreiben, seine Voraussetzungen und Absichten betrafen, vielfach auf allgemeine poetologische Fragen bezogen hat, wird das Phantásien-Lexikon so durch eine andere (kleinere) Enzyklopädie durchdrungen: eine enzyklopädische Darstellung der Poetik Endes in Bruchstücken – die nicht alphabetisch sortiert sind, sich aber doch als Bausteine eines Wissensdiskurses darstellen, die man zusammenfügen kann und sollte. So etwa heißt es in dem Artikel »Botschaft, die« (ebenfalls einem »Kommentar-Artikel«, keiner Beschreibung Phantásiens selbst), auf die Frage einer Leserin nach der Botschaft seines Romans habe Ende entgegnet:

»[…] Kunst und Poesie erklären ja nicht die Welt, sie stellen sie dar. Sie brauchen nichts, was über sie hinausweist. Sie sind selbst ein Ziel. Ein gutes Gedicht ist nicht dazu da, die Welt zu verbessern – es ist selbst ein Stück verbesserter Welt, es braucht daher keine Botschaft. […]« (52)

Der lexikographische Aufbau wird in den Dienst der Illusionsverdichtung gestellt, erweist sich aber zudem als geeignet, den metaliterarischen Charakter von Endes Roman zu erläutern und diese Erläuterungen mit ›Sachinformationen‹ über Phantásien zu verbinden.

Typisch für den reflexiven Stil vieler Artikel ist schon der erste Artikel: »A, das«. Hier heißt es: »Alle Geschichten dieser Welt, ob sie nun phantastisch oder realistisch sind, erfunden oder fast wahr, sind aus einer Kombination dieser Buchstaben[des Alphabets] geschrieben. Ist das nicht ein Wunder?« (19) Der Artikel zum Stichwort »Absichtslosigkeit, die« (= zweiter Artikel) wird zum Anlaß, anschließend an Erläuterungen zum »Ohne-Schlüssel-Tor« Michael Ende selbst zu zitieren und damit Hinweise auf Kernideen seiner Poetik zu geben; das »Ohne-Schlüssel-Tor« sei »der Schlüssel zu einem der wichtigsten poetischen Konzepte Michael Endes – dem Gedanken der Absichtslosigkeit« (19). »Nur wer sich vom Wollen löst und jede Absicht vergisst, kann hindurchgehen«, so die Lexikographen, und Endes eigene Bemerkungen entstammen einem Kommentar zur Arbeit an dem Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«:

»Ich ließ mich einfach ganz absichtslos von einem Satz zum anderen, von einem Einfall zum nächsten führen. So entdeckte ich das Schreiben als ein Abenteuer, Und als ich endlich, etwa zehn Monate später, den letzten Satz schrieb, lag ein dickes Manuskript vor mir.« (Ende, bei Hocke, 20)

Wie andere Artikel auch, wenden sich die anschließenden Ausführungen im Artikel »Absichtslosigkeit« gegen den Eskapismusvorwurf, und stellen – im Sinne Endes fest: »Kunst interagiert also mit der Realität und schafft eine eigene Wirklichkeit« (21). Weitere grundsätzliche Erwägungen und poetologische Thesen schließen sich an. Erinnert wird an die Bedeutung, die Ende Bildern wie van Goghs Sonnenblumen für die Erfahrung der sichtbaren Welt beimaß; erinnert wird an seine Affinität zur fernöstlichen Meditation als einem Weg zur Selbstbefreiung von »Bewusstsein und Willen«, betont wird, daß die Idee der Absichtslosigkeit für Endes »Vorstellung von phantastischer Literatur […] ganz besondere Bedeutung« hatte – und unterschieden wird im Sinne Endes zwischen Fiktionen und Lügen: absichtslos und selbstzweckhaft sind die einen, zweckgerichtet die anderen. Umrissen wird insgesamt Endes autonomieästhetische Poetik.

Der Artikel hat schon durch seine Plazierung am Anfang des Buchs etwas Programmatisches. (Und es ist einerseits natürlich ein ›absichtsloser‹ Zufall, daß »Absichtslosigkeit« als Stichwort im Alphabet so früh auftaucht, andererseits wird der Anlaß von den Lexikographen durchaus absichtsvoll genutzt.) Der Artikel ist nicht für Leser verfaßt, die in dem Sinn sich nach Phantásien entführen lassen wollen, daß sie dessen Welt einfach nur als erlebte Wirklichkeit erfahren; es geht nicht um Illudierung. Der von Roman und Patrick Hocke geführte Diskurs ist ein literaturtheoretischer Diskurs, wenn beide auch Fachtermini meiden.