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Horribles, Abseitiges, Groteskes: Lexikographik des Skurrilen und Monströsen

Ein Monster-Lexikon hat auch Ulrich Holbein mit seinem »Narratorium« vorgelegt. Seine Monster sind allesamt Menschen.

Ulrich Holbein:
Narratorium. Abenteurer. Blödelbarden. Clowns. Diven. Einsiedler. Fischprediger. Gottessöhne. Huren. Ikonen. Joker. Kratzbürsten. Lustmolche. Menschenfischer. Nobody. Oberbonzen. Psychonauten. Querulanten. Rattenfänger. Scharlatane. Theosophinnen. Urmütter. Verlierer. Wortführer. Yogis. Zuchthäusler. 255 Lebensbilder
Zürich 2008

In dem einzelnen Artikeln des umfangreichen, rund 1008seitigen Buchs werden in alphabetischer Folge Personen (Männer und Frauen) porträtiert, die ungewöhnliche Charaktere besaßen, ein ungewöhnliches Leben führten, in irgendeiner Weise mit Exzentrizität konnotiert sind, aus ihren Zeitgenossen herausragen. Das am Ende des Bandes integrierte Verzeichnis der 225 Personen ordnet diesen zwar Lebensdaten zu (genaue oder ungefähre) und listet sie in chronologischer Folge – doch im »Narratorium« werden historische Persönlichkeiten mit Figuren aus Literatur und Legende gemischt. Damit ignoriert das Lexikon die Differenz zwischen dem (sogenannten) Realen und dem sogenannten Fiktiven auf programmatische Weise. Alle Porträtierten, ob sie nun Bücher geschrieben haben oder in Büchern vorkommen, Geschichte gemacht haben oder aus Geschichten bekannt sind, werden kurz durch Berufsangaben oder Hinweise auf ihre soziale Rollen sowie auf ein prägende Persönlichkeimerkmale charakterisiert. Die Liste umfaßt Angehörige westlicher wie östlicher Kulturen. Einige Namen aus Holbeins Kollektion:

Ezechiel, Prophet, Visionär, Drohpriester, Strafprediger (um 620 bis ca. 575 v. Chr.)
Orpheus, Sänger, Barde, Dichter, Kulturbringer, Sagengestalt (6. Jhdt. v. Chr.)
Jesus von Nazaret, Wander- und Bergprdiger, Erlöser (u, 7 v.Chr. bis ca. 33 n. Chr.)
Amlethus, Simulant, Teilzeit-Narr, Racheengel, Hamlet-Vorläufer (5. Jhdt. nach Chr.)
Merlin, Demeterkönig, Seher, Druide, Barde, Weisheitsgreis (6. Jhdt. n. Chr.)
Kukkuripa, Hindu-Asket, Yogi, Giftsee-Insulaner (11. Jhdt.)
Hildegard von Bingen, Nonne und Äbtissin, Visionärin, Naturforscherin (1098-1179)
Franziskus von Assisi, Minderbruder, Ordensstifter, Vogelprediger (1182-1226)
Till Eulenspiegel. Handwerker, Landfahrer, Possenreißer, Erzschelm (14. Jhdt.)
Fredrich Spee, Barockdichter, Moraltheologe, Hexenwahnbekämpfer (1591-1635)
Johann Heinrich Pestalozzi, Wohltäter, Volkserzieher, Schulgründer (1746-1827)
William Blake, Mystiker, Buchillustrator, Visionär, Poet, Prophet (1757-1827)
Jean Paul, Formatsprenger, Kosmosträumer, Dichter, Denker, Geist (1763-1825)
Anselmus, Studiosus, Tollpatsch, Pechvogel, Aushilfskopist, Phantast (18./19. Jhdt.)
Novalis, Beamter, Ideenschöpfer, Universalpoet, Frühromantiker (1772-1801)
Hadschi Halef Omar, Diener, Prahlhans, Weggefährte, Scheich (1849-1897)
Oscar Wilde, Charmeur, Faneu, Komödiant, Stilist, Ästhetizist (1854-1900)
Mahatma Gandhi, Jurist, Ahimsa-Asket, Freiheitsheld (1869-1948)

... und unter den jüngeren Narren sind:

Forrest Gump, Dummbeutel, Riesenbaby, Sportsman (geb. 1950)
Osama bin Laden, Dschihadist, Stratege, Networker, Topterrorist (geb. 1957)
Michael Jackson, Moonwalker, Superstar, King of Pop (geb 1958).

Holbeins »Narratorium« knüpft an die traditionelle Beschreibung der Welt als ›Narrenschiff‹ an. Im Einleitungstext heißt es unter dem Titel »Heilige und unheilige Narren im Anmarsch und Abflug«: »Kleine Narrenkunde für Anfänger: Die Welt wimmelt von Normalnarren und Extremnarren, und zwar jede Welt.« (Holbein 2008, 5) Stilistisch versuchen die Artikel, der Idee universaler Exzentrizität und kreativer Narrheit zu entsprechen; das muß man mögen. Ergänzt werden die Texte durch zahlreiche Porträtdarstellungen, für die in der Regel unterschiedliches (zur jeweiligen Person passendes) Bildmaterial collagiert wurde. Auf einer Fülle zitierter oder paraphrasierter Quellen beruhend, bieten die Artikel vielfältige Zitate und Quellenverweise. (Vgl. den Blog: www.narratorium.net – laut Hinweis im Buch (am Ende): ›eine multifunktionelle Meldestelle für Fehlerberichtigung, Ergänzungs- und Zukunftswünsche’; hier findet sich »ein ABC-Gesamtüberblick, Narren-Paßfotos, Automobil-Gurus, Bilder von göttlichen Greisen, eine reichhaltige Zeittafel närrischer Existenzen vom Urknall bis 2088 n. Chr., ein uferloses Literaturverzeichnis, ein ›Närrischer Grundwortschatz – Minimalglossarium‹, Ergänzungen zum Bildnachweis«)

Literatur

Borrmann, Norbert / Borrmann, Christiane Maria: Lexikon der Monster, Geister und Dämonen. Die Geschöpfe der Nacht aus Mythos, Sage, Literatur und Film. Das (etwas) andere Who is Who. Berlin 2000, Köln 2001. [Borrmann/Borrmann 2000]

Holbein, Ulrich: Narratorium. Abenteurer. Blödelbarden. Clowns. Diven. Einsiedler. Fischprediger. Gottessöhne. Huren. Ikonen. Joker. Kratzbürsten. Lustmolche. Menschenfischer. Nobody. Oberbonzen. Psychonauten. Querulanten. Rattenfänger. Scharlatane. Theosophinnen. Urmütter. Verlierer. Wortführer. Yogis. Zuchthäusler. 255 Lebensbilder. Zürich 2008. [Holbein 2008]

Rose, Carol:Giants, Monsters & Dragons. An Encyclopedia of Folklore, Legend, and Myth. New York/London 2000. [Rose 2000]