Die einzelnen Teile folgen einem einheitlichen Schema: Auf ein
Inhaltsverzeichnis, das Auskünfte über Strukturierung und
Plazierung des Wissens im Buch suggeriert, folgen (unlesbare)
Texte, die von Bildern begleitet werden, sowie Schautafeln mit
erläuternden Bildunterschriften. Neben Einzelbilden finden sich
Bildsequenzen. Die Texte sind (wiewohl unlesbar) erkennbar
durchstruktuiert: Sie enthalten Absätze, die einer spezifischen
Numerik zu unterliegen scheinen, bestehen teilweise aus
Einzelwörtern oder kleinen Wortgruppen von klassifikatorischem oder
erläuterndem Charakter, es finden sich Listen, schematische
Darstellungen, Textabschnitte in Form lexikographischer Artikel und
andere Formen von Wissenschaftsprosa.
Die Bilder im »Codex« stellen neben Objekten auch Räumlichkeiten
und Topographien sowie (mittelbar, durch Bildsequenzen und
Graphiken, die an Funktionszeichnungen erinnern) auch Prozesse dar:
Wachstums- und Entwicklungsvorgänge, Metamorphosen, kulturelle
Praktiken und Rituale, Funktionsweisen von Maschinen etc. Hinzu
kommen Schaubilder, Tafeln zur Anatomie, physikalische und
chemische Schemazeichnungen, etc. Insgesamt bedient sich der
»Codex« aus den Bildarsenalen der kultur- und
naturwissenschaftlichen Wissensdisziplinen, auf die er anspielt. In
die mit Blei- und Buntstiften angefertigen Zeichnungen sind
vielfach Schrift- oder »Zahlen«-Elemente integriert. – Der »Codex«
bedient sich scheinbar (!) eines eigene Zahlensystems; dieses wird
auf mehreren Ebenen verwendet. Auf ihm beruht die Gliederung des
Bandes in Kapitel und Unterkapitel, die Anordnung diverser Bilder
und Textpassagen innerhalb der Kapitel die klassifikatorische
Darstellung verschiedener Gegenstandsbereiche sowie die Paginierung
des gesamten Buchs. – Gibt es auch diverse Spielformen der
Kombination von Texten und Bildern, so erzeugen diese doch
durchgängig die Suggestion wechselseitiger Stützung und
Erläuterung; dies ist wegen der Unlesbarkeit des Textes weder
verifizierbar noch falsifizierbar.
Mikro- und der Makrostruktur des »Codex« zitieren konventionelle
Formen der Strukturierung und der didaktischen Präsentation von
Wissen; während die Texte undlesbar sind, lassen sich die
Strukturierungs- und Präsentationsformen als solche »entziffern«.
Mit dem Einsatz solcher Darstellungsformen zur Vermittlung von
Wissen über ein imaginäres Universum verbinden sich implizit
Reflexionen über Medien und Medialität (über Texte, Sprache und
Schrift, über Zahlen und klassifikatorische Systeme, über
Bildformen verschiedener Art vom mimetischen Bild bis zum
abstrakten Schaubild. Am Anfang begrüßt ein ringförmiges Wesen mit
Krone und Farbpinsel den Leser in der imaginären Welt. Die letzte
Seite zeigt ein mit serafinischer Schrift bedecktes Blatt, das
faksimiliert wirkt und dessen unteres Ende sich dem Blick des
Lesers entzieht, da es sich in einer räumlichen Umgebung nach
hinten rollt. Der Raum selbst erinnert an einen Sarg; auf dem Boden
liegen die Einzelknochen einer skelettierten Hand neben einem
Häufchen Asche; Kleinstlebewesen tummeln sich auf den
Überresten.
Suggeriert der »Codex« einerseits die Existenz eines ganzen
imaginären Universums, so kann er als Enzyklopädie die
verschiedenen Teile dieses Unibversus doch nur selektiv und
exemplarisch darstellen; insofern suggeriert er auch die Existenz
nichtdargestellter Teile der serafinischen Welt. Thematisiert wird
die Frage der Decodierung: Der im Buch abgebildete Stein mit zwei
verschiedenen Schriftsystemen ist zwar ein Pendant des Steins von
Rosette, da aber beide Schriften unlesbar sind, bleibt eine
Entzifferung unmöglich.
Obwohl der »Codex« außer Autornamen und Titel (abgesehen vom
Impressum) kein Wort in lesbarer Schrift enthält, ist er
intertextuell vernetzt. Durch seine Bilder wie durch seine
Ordnungsschemata spielt er auf imaginäre Universen in der Literatur
an, etwa auf Borges (in der Erzählung über »Tlön, Uqbar, Orbis
Tertius« wird die Konstruktion eines imaginären Universums
beschrieben) und auf Calvino (»Le citta invisibili« sowie »Il
castello dei destini incrociati«) Italo Calvino selbst hat
Analogien zwischen dem »Codex« und den »Metamorphosen« Ovids sowie
zu Edward Lears »Nonsense Botany« hervorgehoben; [1] er charakterisiert Serafinis phantastisches Universum
dabei als eine Welt, die aus geschriebener Sprache entstehe.
[2] Geschriebene Wörter würden bei
Serafini lebendig, entfalteten Körperlichkeit, zeigten
Beweglichkeit und erwiesen sich als wandelbare Materie. [3] Wie alles Lebendige, so löse sich auch jedes
aus Schrift bestehende Wesen bei Serafini schließlich in einer
letzten Metamorphose auf – um in verwandelter Form als Substrat
neuer Bildungen weiterzuleben; »Metamorphosen und Alphabete« seien
gleichermaßen einem zyklischen »Lebensprinzip« unterworfen.
[4] Calvinos Interesse gilt der
darstellungsreflexiven Dimension des »Codex«. [5]