J.
Jenseits der Lesbarkeit: Luigi Serafini: »Codex Seraphinianus« (1981)
Aufbau

Die einzelnen Teile folgen einem einheitlichen Schema: Auf ein Inhaltsverzeichnis, das Auskünfte über Strukturierung und Plazierung des Wissens im Buch suggeriert, folgen (unlesbare) Texte, die von Bildern begleitet werden, sowie Schautafeln mit erläuternden Bildunterschriften. Neben Einzelbilden finden sich Bildsequenzen. Die Texte sind (wiewohl unlesbar) erkennbar durchstruktuiert: Sie enthalten Absätze, die einer spezifischen Numerik zu unterliegen scheinen, bestehen teilweise aus Einzelwörtern oder kleinen Wortgruppen von klassifikatorischem oder erläuterndem Charakter, es finden sich Listen, schematische Darstellungen, Textabschnitte in Form lexikographischer Artikel und andere Formen von Wissenschaftsprosa.
Die Bilder im »Codex« stellen neben Objekten auch Räumlichkeiten und Topographien sowie (mittelbar, durch Bildsequenzen und Graphiken, die an Funktionszeichnungen erinnern) auch Prozesse dar: Wachstums- und Entwicklungsvorgänge, Metamorphosen, kulturelle Praktiken und Rituale, Funktionsweisen von Maschinen etc. Hinzu kommen Schaubilder, Tafeln zur Anatomie, physikalische und chemische Schemazeichnungen, etc. Insgesamt bedient sich der »Codex« aus den Bildarsenalen der kultur- und naturwissenschaftlichen Wissensdisziplinen, auf die er anspielt. In die mit Blei- und Buntstiften angefertigen Zeichnungen sind vielfach Schrift- oder »Zahlen«-Elemente integriert. – Der »Codex« bedient sich scheinbar (!) eines eigene Zahlensystems; dieses wird auf mehreren Ebenen verwendet. Auf ihm beruht die Gliederung des Bandes in Kapitel und Unterkapitel, die Anordnung diverser Bilder und Textpassagen innerhalb der Kapitel die klassifikatorische Darstellung verschiedener Gegenstandsbereiche sowie die Paginierung des gesamten Buchs. – Gibt es auch diverse Spielformen der Kombination von Texten und Bildern, so erzeugen diese doch durchgängig die Suggestion wechselseitiger Stützung und Erläuterung; dies ist wegen der Unlesbarkeit des Textes weder verifizierbar noch falsifizierbar.
Mikro- und der Makrostruktur des »Codex« zitieren konventionelle Formen der Strukturierung und der didaktischen Präsentation von Wissen; während die Texte undlesbar sind, lassen sich die Strukturierungs- und Präsentationsformen als solche »entziffern«. Mit dem Einsatz solcher Darstellungsformen zur Vermittlung von Wissen über ein imaginäres Universum verbinden sich implizit Reflexionen über Medien und Medialität (über Texte, Sprache und Schrift, über Zahlen und klassifikatorische Systeme, über Bildformen verschiedener Art vom mimetischen Bild bis zum abstrakten Schaubild. Am Anfang begrüßt ein ringförmiges Wesen mit Krone und Farbpinsel den Leser in der imaginären Welt. Die letzte Seite zeigt ein mit serafinischer Schrift bedecktes Blatt, das faksimiliert wirkt und dessen unteres Ende sich dem Blick des Lesers entzieht, da es sich in einer räumlichen Umgebung nach hinten rollt. Der Raum selbst erinnert an einen Sarg; auf dem Boden liegen die Einzelknochen einer skelettierten Hand neben einem Häufchen Asche; Kleinstlebewesen tummeln sich auf den Überresten.
Suggeriert der »Codex« einerseits die Existenz eines ganzen imaginären Universums, so kann er als Enzyklopädie die verschiedenen Teile dieses Unibversus doch nur selektiv und exemplarisch darstellen; insofern suggeriert er auch die Existenz nichtdargestellter Teile der serafinischen Welt. Thematisiert wird die Frage der Decodierung: Der im Buch abgebildete Stein mit zwei verschiedenen Schriftsystemen ist zwar ein Pendant des Steins von Rosette, da aber beide Schriften unlesbar sind, bleibt eine Entzifferung unmöglich.
Obwohl der »Codex« außer Autornamen und Titel (abgesehen vom Impressum) kein Wort in lesbarer Schrift enthält, ist er intertextuell vernetzt. Durch seine Bilder wie durch seine Ordnungsschemata spielt er auf imaginäre Universen in der Literatur an, etwa auf Borges (in der Erzählung über »Tlön, Uqbar, Orbis Tertius« wird die Konstruktion eines imaginären Universums beschrieben) und auf Calvino (»Le citta invisibili« sowie »Il castello dei destini incrociati«) Italo Calvino selbst hat Analogien zwischen dem »Codex« und den »Metamorphosen« Ovids sowie zu Edward Lears »Nonsense Botany« hervorgehoben; [1] er charakterisiert Serafinis phantastisches Universum dabei als eine Welt, die aus geschriebener Sprache entstehe. [2] Geschriebene Wörter würden bei Serafini lebendig, entfalteten Körperlichkeit, zeigten Beweglichkeit und erwiesen sich als wandelbare Materie. [3] Wie alles Lebendige, so löse sich auch jedes aus Schrift bestehende Wesen bei Serafini schließlich in einer letzten Metamorphose auf – um in verwandelter Form als Substrat neuer Bildungen weiterzuleben; »Metamorphosen und Alphabete« seien gleichermaßen einem zyklischen »Lebensprinzip« unterworfen. [4] Calvinos Interesse gilt der darstellungsreflexiven Dimension des »Codex«. [5]

[1] »Wie Ovid in den Metamorphosen, glaubt Serafini an die Kontiguität und Permeabilität aller Gebiete des Existierenden. Das Anatomische und das mechanische tauschen ihre Morphologien: menschliche Arme enden statt in einer Hand in einem Hammer oder einer Zange, Beine erheben sich nicht auf Füßen, sondern auf Rädern. Das Menschliche und das Pflanzliche komplettieren sich gegenseitig, wie zum Beispiel auf einer Tafel der Bebauung des menschlichen Körpers: ein Wald auf dem Kopf, Kletterpflanzen an den Beinen, Wiesen auf der Handfläche, Nelken, die aus den Ohren wachsen. Das Pflanzliche vermählt sich mit dem Warenkundlichen (...), das Zoologische mit dem Mineralischen (...), desgleichen das Zementierte mit dem Geologischen, das Heraldische mit dem Technischen, das Wilde mit dem Urbanen, das Geschriebene mit dem Gelebten. Wie manche Tiere die Formen anderer im selben Habitat lebender Arten annehmen, so werden die Lebewesen von den Formen der sie umgebenden Dinge angesteckt. / Der Übergang von einer Form zur anderen wird Phase für Phase verfolgt (...).« (159-160) – »In Serafinis Schrift-Universum werden Wurzeln, die fast gleich aussehen, unter verschiedenen Namen katalogisiert, denn jede Wurzelfaser ist ein Unterscheidungsmerkmal. (...) Die pflanzlichen Formen führen die Klassifizierung der imaginären Pflanzen weiter, die in Edward Lears freundlicher ›Nonsense Botany‹ angefangen und in Leo Lionnis sideraler ›Botanica Parallela‹ fortgesetzt worden ist.« (Calvino, 163)
[2] »Am Anfang war die Sprache. In der Welt, die Luigi Serafini bewohnt und beschreibt, ist, glaube ich, das geschriebene Wort den Bildern vorausgegangen – diese winzige und gewandte und [...] überaus klare Kursivschrift, die wir immer um ein Haar meinen lesen zu können und die uns doch in jedem Wort und jedem Buchstaben entgleitet. Die Angst, die uns dieses Andere Universum macht, entspringt nicht so sehr seiner Verschiedenheit von dem uns vertrauten, sondern seiner Ähnlichkeit mit ihm; desgleichen die Schrift, die sich leicht in einem uns zwar fremden, aber nicht unerreichbaren Sprachgebiet hätte entwickeln können. / [...] Die Dinge der Welt, die diese Sprache heraufbeschwört [...], sind fast immer erkennbar, aber der Zusammenhang zwischen ihnen scheint uns zerrüttet durch unerwartete Nebeneinanderstellungen und Beziehungen. [...] Wenn Serafinis Schrift die Kraft hat, eine Welt heraufzubeschwören, in der die Syntax der Dinge umgestürzt ist, dann muß sie, verborgen unter dem Geheimnis ihrer unentzifferbaren Oberfläche, ein tieferes Geheimnis haben, das die innere Logik der Sprache und des Denkens betrifft. Die Bilder des Existierenden verzerren und verdrehen ihre Verknüpfungen, die Verwirrung der visuellen Attribute erzeigt Ungeheuer, das Universum Serafinis ist voller Mißgestalten. Aber auch in der Mißgestalt gibt es (160) eine Logik, deren Züge wir jeden Augenblick auftauchen und verschwinden zu sehen meinen, so wie die Bedeutungen dieser sorgfältig mit spitzer Feder gezeichneten Wörter.« (Calvino: Serafini-Text, 159f.)
[3] »Mir scheint, daß die wahre ›fröhliche Wissenschaft‹ für Serafini die Linguistik ist ([...]; das gesprochene Wort ruft noch einige Ängste hervor, wenn wir es wie einen schwärzlichen Brei von den Lippen tropfen sehen oder wenn es mit Angelruten aus einem weit aufgerissenen Mund gezogen wird.) Das geschriebene Wort ist gleichfalls lebendig (man braucht es nur mit einer Hutnadel zu stechen, um es bluten zu sehen), aber es hat eine eigene Autonomie und Körperlichkeit, es kann dreidimensional und vielfarbig werden [...]. es gibt Wörter, die man, um sie auf dem Papier festzuhalten, annähen muß, indem man den Faden durch Ösen der verschlungenen Buchstaben führt. Und wenn man die Schrift mit einer Linse betrachtet, erweist sich der dünne Tintenstrich durchzogen von einem dichten Strom an Bedeutungen – wie eine volle Autobahn, eine wimmelnde Masse, ein Fluß voll umherflitzender Fische.« (Calvino, Serafini-Text, 169)
[4] »Am Ende – die letzte Tafel des Codex – ist es das Schicksal jeder Schrift, in Staub zu zerfallen, und auch von der Hand des Schreibenden bleiben nur die Knochen. Zeilen und Wörter lösen sich von der Seite ab und zerbröseln, und aus den Staubhäufchen springen wieder die kleinen regenbogenfarbigen Wesen hervor und beginnen zu tanzen. Das Lebensprinzip aller Metamorphosen und Alphabete beginnt seinen Zyklus von neuem.« (Serafini-Text 165)
[5] »Serafinis Zoologie ist immer beunruhigend, mißgestaltet, alptraumhaft. Ihre Evolutionsgesetze sind die Metapher [...], die Metonymie und die Bilderverdichtung [...].« (163) Weitere Bemerkungen Calvinos gelten Serafinis Zoologie, Anthropologie, Physik, Chemie und Mineralogie, schließlich den »Humanwissenschaften« (er nennt »Ethnographie, Geschichte, Gastronomie, Spiele, Sport, Kleidung, Linguistik und Urbanistik«). (164)