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Reisen nach Mittelerde. Karten, Atlanten, Sprachführer und Enzyklopädien imaginärer Reiche bei Tolkien
J. R. R. Tolkien

Tolkien selbst stattete parallel zur Arbeit an seinen literarischen Werken das Reich von »Middle-earth« mit einer elaborierten Topographie, mehreren Völkern, ihrer Geschichte und ihren Kulturen aus, zu denen auch Sprachen und Alphabete gehören (vgl. J. R. R. Tolkien: The Shaping of Middle-Earth. The History of Middle Earth. New York 1995). Seit den 20er Jahren war der Professor für das Angelsächsische mit der minutiösen Konstruktion jener imaginären Welt beschäftigt, in welcher »The Hobbit« und »The Lord of the Rings« spielen. Die Erfindung der Mythen und Legenden von Mittelerde bildeten die Grundlage für das spätere »Silmarillion«. (Um 1933 erzählte Tolkien seinen eigenen Kindern erstmals von Bilbo, dem Hobbit, 1936 wurde The Hobbit abgeschlossen und 1937 publiziert. Der Erfolg motivierte Tolkien, die Ausgangsgeschichte weiter auszuspinnen; mit dieser Fortsetzung schloss er 1948 ab. 1954 erschienen deren erste beiden Teile unter dem Titel »The Fellowship of the Ring« und »The Two Towers«, im folgenden Jahr erschien der dritte Teil, The Return of the King. Tolkiens Nachlass enthielt ein Korpus von Legenden und Mythen, die seit den 20er Jahren entstanden und der Romanwelt zugeordnet wurden. Christopher Tolkien publizierte sie im Jahr 1977 als »The Silmarillion«.) Offenbar motiviert durch den Gedanken, dass Fiktionen mit steigender Dichte an Überzeugungskraft gewinnen, schuf Tolkien durch paratextuelle Umlagerung seiner Grundfabeln eine Welt, deren Anhängerschaft mittlerweile so groß ist, dass sie eine eigene Kultur hervorgebracht hat – eine auf Imaginationen gründende Kultur, die selbst keineswegs imaginär ist, da sie sich in einer Fülle von Informationsträgern und Artefakten, Kommunikationsprozessen und anderen Aktivitäten manifestiert – eine Welt zudem, die von Anfang an das Bündnis mit diversen Darstellungsmedien suchte.

Schon durch solche Ausstattung ›seiner‹ Welt mit einer in Schriften niedergelegten Vorgeschichte hatte Tolkien die Grenze zwischen Realität und Imaginärem überspielt. Denn hinsichtlich ihrer medialen Verfasstheit sind ›wahre‹ und ›erfundene‹ Vergangenheiten einander kompatibel; hier wie dort ist Geschichte ein Erzeugnis der Schriften. Analoges gilt für die Sprachen von »Middle-Earth«: Sie existieren, insofern sie in einem Sprachführer beschrieben, erlernbar und als Kommunikationsmedium nutzbar sind. Auch erfundene Sprachen sind Sprachen – wie begrenzt auch immer ihr Wortschatz sein mag (und der der Tolkien-Sprachen füllt immerhin ein Wörterbuch). Die Fiktion namens Mittelerde ist somit paratextuell umstellt mit Schriften, die eine performative Dimension besitzen; sie erzeugen das, was sie beschreiben, indem sie es beschreiben. Was in Anlehnung an die Spielregeln linguistischer oder historiographischer Diskurse erfunden wird, wird als Gegenstand der Forschung verhandelbar. Robert Fosters »Complete Guide to Middle-Earth« akzentuiert selbst ausdrücklich die Realitätsanmutung, die von Tolkiens Kosmos ausgeht.