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Reisen nach Mittelerde. Karten, Atlanten, Sprachführer und Enzyklopädien imaginärer Reiche bei Tolkien
Tolkien und Borges

Tolkien und Borges sind die wohl wichtigsten Repräsentanten (und Anreger) enzyklopädischer Schreibweisen – allerdings in ganz unterschiedlicher Weise: Tolkien repräsentiert (und prägt) ein Schreibverfahren, mit dem es darum geht, durch enzyklopädisch-totalisierende Darstellung ein möglichst geschlossenes fiktionales Universum zu schaffen. (Hans Blumenberg hat Kohärenz bzw. Konsistenz zum maßgeblichen Kriterium erklärt, das aus neuzeitlicher Perspektive erfüllt sein muß, damit etwas als ›wirklich‹ gilt bzw. Aussagen als Aussagen über ›Wirklichkeit‹ akzeptiert werden.) Eine geschlossene (kohärente, ›komplette‹) Welt muß systematisch und vollständig dargestellt werden (oder doch prinzipiell komplett darstellbar sein), damit ihre Geschlossenheit bzw. Kohärenz evident wird. Es bedarf also einer Ordnung des Wissens und der Wissensdarstellung, an die man sich dabei hält. Tolkien orientiert sich an vertrauten sachkundlich-wissenschaftlichen Darstellungsverfahren. Bei ihm wird die (im engeren Sinn) narrative Darstellung ergänzt durch Darstellungsformen der Chronologie/Chronik/Annalistik, Kartographie, Linguistik, durch Schaubilder, Illustrationen, Tabellen etc.). Nach Tolkiens Tod ist dieser Grundzug durch die posthume Publikation der entsprechenden Materialien deutlicher geworden, und Tolkien-Rezipienten haben die ›Komplettierung‹ und ›Verdichtung‹ der Tolkienwelt zu ihrem eigenen Projekt gemacht. Borges dagegen beobachtet und thematisiert die Konstruktion von »Welten« auf der Basis von Wissensordnungen von einer anderen Ebene her: Er weist auf deren Beliebigkeit (Kontingenz) hin – und auf die Möglichkeit, ganz andere Ordnungen zu entwerfen. In seinen erzählerisch und essayistisch gestalteten Gedankenexperimenten bricht er versuchsweise mit fundamentalen Ordnungsvorstellungen. Er entwirft Modelle einer nicht-linearen Zeit, er setzt dem Endlichen, Zählbaren und Meßbaren die Idee des Unendlichen entgegen, und er parodiert konventionelle Klassifikationssysteme.