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Zusammengestellte Fundstücke
»Pfeifen im Walde«

Ein ungewöhnliches Lexikon, das aber zumindest hinsichtlich seiner Inhalte überhaupt nicht parodistisch ist und dessen Gegenstände nicht dem Bereich der Fiktionen zuzurechnen sind, gilt einem eigenartigen, aber (wie der Leser erkennt) nur vermeintlich abseitigen Thema:

»Pfeifen im Walde. Ein unvollständiges Handbuch zur Phänomenologie des Pfeifens«. Hg. v. Volker Straebel und Matthias Osterwold in Verbindung mit Nicolas Collins, Valerian Maly, Elke Moltrecht.

»Pfeifen im Walde« wirkt auf den ersten Blick wie ein simuliertes Lexikon, ein literarisch-parodistischer Spaß. Aber es ist ein richtiges Fachbuch, das seinen Gegenstand, das Pfeifen, in alphabetisch geordneten Artikeln in seinem ganzen Facettenreichtum darstellt. Der Band ist in Artikel gegliedert, die in alphabetischer Folge angeordnet sind und deren Layout dem von Artikeln in Lexika entspricht. Manche Artikel sind bebildert – wie etwa in Konversationslexika üblich. Das Lexikon entstand anläßlich eines Festivals zum Phänomen des Pfeifens in Podewil bei Berlin im September 1994. Einige Artikel sind länger und haben den Charakter von kleinen Abhandlungen oder Essays.

Erläuterungen bietet das »Vorwort zur ersten, unerweiterten Ausgabe« (charakteristisch ist der aufzählende Stil, der zum einen auf den ›enzyklopädischen‹ Anspruch des Unternehmens bereits hindeutet, zum anderen aber eindeutig ein literarisches Stilmittel ist):

»Alles pfeift und alle pfeifen, und fast niemand denkt darüber nach: Menschen pfeifen, im Alltag und oft unbewußt, in gehobener Stimmung, manchmal kokett, manchmal vulgär, sie pfeifen aus Empörung, aus Begeisterung, aus Angst, als Signal, als geheimer Code der Wiedererkennung, sie pfeifen an, sie pfeifen ab, sie pfeifen aus, sie pfeifen hinterher, sie verpfeifen (sich), sie pfeifen sich was rein, sie pfeifen auf dem letzten Loch; nicht nur Vögel, auch andere Tiere pfeifen: Delphine, Murmeltiere, Ratten, Mäuse, Fledermäuse, und manche glauben, ihr Schwein pfeift; Motoren, Maschinen und Computer pfeifen, Kugeln pfeifen, der Kosmos pfeift.
Pfeifen ist ubiquitär, Pfeifen ist selbstverständlich. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, ist das Phänomen des Pfeifens [...] noch kaum je einer auch nur ansatzweise umfassenden Untersuchung und Darstellung zugeführt worden.« (Straebel/ Osterwold u.a. 1994, unpag.)

Als zuständige Wissensdisziplinen genannt werden, wieder listenförmig: »Sprachforschung, Kommunikationswissenschaft, Semiotik, Sozialpsychologie, Musikwissenschaft, Instrumentenkunde, Ethnologie, Volkskunde, Archäologie, Literaturwissenschaft, Bildende Kunst, physikalische Akustik, Psychoakustik, Biologie, Zoologie, Ornithologie, Walkunde, Medizin, Signaltechnik, Maschinenbau« sowie weitere Fächer.

»Das Handbuch umfaßt in enzyklopädischer Anordnung neben einer Vielzahl kurzer informativer oder anekdotischer Eintragungen eine Reihe längerer Originalbeiträge, die einerseits die Themen des Festivals aufgreifen, erläutern und vertiefen, andererseits weit darüberhinaus zusätzliche Bereiche erschließen.« (Straebel/ Osterwold u.a. 1994, unpag.)

Inhaltlich ist die Diversität der gebotenen Informationen groß. Aus dem Inhalt: »Aberglaube« (über das Pfeifen im Aberglauben), »Abpfiff«, »Akustik des Pfeifens« = »Pfeifen als akustisches Phänomen« [Abhandlung] von Ingolf Bork, Physikalisch-technische Bundesanstalt Braunschweig. (in: Straebel/ Osterwold u.a. 1994, 13-19, mit Illustrationen), »Alltag, Pfeifen im A« (kleine Abhandlung zum Bildmotiv und zur Kultur- und Konzeptgeschichte des Vor-sich-Hinpfeifens); »Arme Seelen« (Hinweis auf den Aberglauben, daß bestimmte Pfeifgeräusche Bekundungen der armen Seelen sind), »Ausstellung« (Hinweis auf Vogelpräparate, die während des Festivals gezeigt werden), »Basler Fastnachtspfeifer«, »Bergwerk« (zum Aberglauben, man dürfe in Bergwerken nicht pfeifen), »Biber« (Heinrich Ignaz Franz Biber, Komponist einer Sonate, die Vogelstimmen darstellt), »Bienen« (zu einer Vorstellung aus dem Bereich des Aberglaubens um Bienen und Pfeifen), »BMW« (über das Pfeifen der Karosserie eines Autotyps), »Bootsmannsmaatenpfeife«, »Border Collie Trial« (über Pfeifkommandos bei der Abrichtung von Border Collies), etc.

Als Abhandlungen in Artikelform integriert sind u.a. Beiträge über folgende Gegenstände (vorn jeweils das Lemma): »Pfeifsprachen. Die Pfeifsprachen von Gomera«, »Akustik: Pfeifen als akustisches Phänomen«, »Seefahrt: Der Wind bläst, der Bootsmann pfeift. Signale an Bord« etc. etc. Erwähnenswert sind zahlreiche Hinweise auf die Künste und auf Künstler: »Cage« (zum Pfeifen bei John Cage), »Debussy« (Anhandlung über das Pfeifen bei Debussy von Stephan Weytjens), »Eisenbahn«, »Emil und die Detektive« (über die Kommunikation durch Pfeifen in Erich Kästners Jugendroman), »Huia« (über die Rekonstruktion des Gesanges einer ausgestorbenen neuseeländischen Vogelart) (Straebel/ Osterwold u.a. 1994, 45-54), »Marsyas« (über den Flötenspieler aus der griechischen Mythologie), »Messiaen« (über Vogelstimmen bei Olivier Messiaen), »Musik« (über das Pfeifen in der Musik), »Notation« (Straebel/ Osterwold u.a. 1994, 75-84), »Pfeifeninstrumente«, »Pfeifer«, »Pfeifsprachen«, »Philosophie des Pfeifens in der Musik«, »Schwitters«, »Vogelstimmen«, »Wittgenstein«, »Xiao, Pfeifsprache in China« (Abhandlung von Francois Picard), »Zwei glorreiche Halunken« (Italo-Western, in dem gepfiffen wird).

Das Lexikon über das Pfeifen ist – anders als es die Aufmachung und der skurril klingende Titel zunächst erwarten lassen – ein Fachlexikon, das durchaus eine Fülle von Informationen bietet. Es vermittelt Spezialwissen zum Thema Pfeifen bezogen auf verschiedene wissenschaftliche Disziplinen, darunter so unterschiedliche wie Musikgeschichte und Akustik, Filmgeschichte und Verhaltensforschung, Ornithologie und Semiotik. Die Form der Darbietung dieses Wissens prägt dieses Wissen; das wird an einem solchen ungewöhnlichen Fach-Lexikon wegen der Ungewöhnlichkeit seines Erscheinungsbildes besonders gut sichtbar.

Erstens suggeriert die enzyklopädische Form des Pfeif-Lexikons, dass es eine enzyklopädische Fülle an Wissen über das Pfeifen gibt. Daß die Form eines solchen nach Artikeln alphabetisch sortierten Lexikons gewählt wird, ist ja alles andere als selbstverständlich. Die Herausgeber hätten die einzelnen Informationen nach Wissensdisziplinen sortieren können: hier die Kultur-, Musik- und Filmgeschichte, dort die Physik und die Akustik, hier die Physiologie, dort die Kommunikationswissenschaften… aber das hätte viel eher eine Überschaubarkeit des Wissens über das Pfeifen suggeriert – und dem einzelnen Leser vielleicht, je nach Interesse, signalisiert, manches werde ihn weniger interessieren. Die Gestalt der Enzyklopädie im Taschenformat hingegen erinnert an Konversationslexika und suggeriert, es gebe eine breite Fülle an aufs Pfeifen bezogenem Wissen, das eigentlich jeden interessieren könne.

Zweitens suggeriert die Betonung der Vielzahl von Disziplinen, die hier beteiligt sind, allein dadurch, daß sie untereinander gemischt werden, daß das Pfeifen ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Wo sich so viele aus so verschiedenen Perspektiven mit dem Pfeifen befassen, da muß doch das Pfeifen ein Thema und ein Gegenstand sein, der wichtig ist. Man nimmt das Pfeifen ernster, wenn man das Lexikon gelesen hat. Daß Kunst- und Wissenschaftsdiskurse miteinander verbunden werden, versteht sich von selbst: das Pfeifen als ästhetische Praxis und das Pfeifen als akustisch-physikalisch beschreibbarer Vorgang stehen nebeneinander bzw. erscheinen als zwei Seiten eines facettenreichen Gegenstandes. An Beispielen wie dem Lexikon über das »Pfeifen im Walde« wird deutlich, daß wissenschaftliche Darstellungen stets eine ästhetische Seite haben, die Anteil an dem hat, als was die dargestellten Gegenstände erscheinen. Das schärft u.a. die Aufmerksamkeit für die Präsentationsform von Büchern (und anderen Medien), die Wissen vermitteln: Fachbücher, Lehrbücher, Schulbücher… und natürlich auch Sprachführer, Reiseführer, Kunstkataloge etc.

Der Leser kann übrigens mitpfeifen, wenn er will: Dem Buch liegt die Bauanleitung zu einer Levavasseur-Pfeife bei.