Auch mit dem Thema »Träume« geht es um etwas Nicht-Kartierbares, jedem Ordnungsversuch Widerständiges – um ein Un-Endliches. In Anknüpfung an Joseph Addisons Bild vom Theater der Träume spielt Borges einleitend mit der These, Träume seien »die älteste und am meisten komplexe literarische Gattung« (Borges 1981a, 7).
Diese These könnte ein Anlaß für den Versuch sein, »eine Weltgeschichte der Träume und ihres Einflusses auf die Literatur zu schreiben« (Borges 1981a, 7).
Zu differenzieren wäre, wenn diese hypothetische Geschichte zustandekäme, zwischen unterschiedlichen Traumtypen: zwischen »vom Schlaf« und »vom Wachen erfundenen Träumen«, zwischen prophetischen, allegorischen und satirischen Träumen und »den reinen Spielen von Lewis Carroll und Franz Kafka« (Borges 1981a, 7).
Das eigene Kompendium charakterisiert Borges als ein »Buch der Träume, welche die Leser wieder träumen werden« (Borges 1981a, 7). Analog zu der Vorstellung, daß Texte immer wieder neu gelesen, zitiert, geschrieben werden, erscheint also auch das Träumen als ein infiniter Prozeß der Wiederholung. Der Traum ist in mehr als einer Hinsicht Muster, Gleichnis, Analogon des literarischen Textes.
Träume implizieren eine Umkehrung gewohnter Bedingungsverhältnisse zwischen Wahrnehmung und subjektiver Empfindung – wie Borges unter Berufung auf Coleridge bemerkt:
Nicht nur Tiger, alle Dinge der Welt kämen, so Borges, als Gegenstände angsterzeugter Visionen in Frage.
Der Übersetzer des »Libro de Sueños«, Curt Meyer-Clason, weist darauf hin, daß Borges bei seiner Kompilation von Texten aus dem Griechischen, Chinesischen, Englischen, Französischen, Portugiesischen und Deutschen verschiedene Eingriffe in sein Textmaterial vorgenommen hat. Die Fassungen im »Libro de Sueños« geben nicht an, »ob sie auf freien Übertragungen fußen oder von Borges bearbeitet sind« (Nachbemerkung des Übersetzers CMC 181). Der Vergleich mit den Originalen zeigt aber, daß diverse Abweichungen und Kürzungen vorliegen. »So unterscheiden sich die spanischen Versionen von ›Gilgamesh‹, ›Geschichte des Kessi‹ und Platons ›Der Traum des Er‹ in Umfang und Stil so stark von den Originalen, daß Borges’ Wortlaute als Grundlage für die vorliegenden Übersetzungen dienen mußte. Seine Kürzungen von Papinis Zitat – um die Hälfte –, von Eça de Queirós – um ein Fünftel – wurden bei der Übersetzung aus dem Italienischen und portugiesischen berücksichtigt.« (Borges 1981a: Nachbemerkung Meyer-Clason, 181)
Die Traum-Kollektion folgt weder einem chronologischen noch einem alphabetischen Ordnungsprinzip. Zudem finden sich Texte von ganz verschiedener Länge – von mehrseitigen bis zu Texten aus wenigen Zeilen. Manche sind Zitate, manche bearbeitete Zitate, manche Nacherzählungen (von Borges); hinzu kommen Borges-Texte. neben Prosatexten finden sich Gedichte. Aus dem Inhalt: