D.
Darstellungsformen des Imaginären:
Jorge Luis Borges als Lexikograph
Lexikographik der Träume: Das »Buch der Träume« (»Libro de Sueños«)
(Anthologie, publ. in Kooperation mit Roy Bartholomew, 1976)

Auch mit dem Thema »Träume« geht es um etwas Nicht-Kartierbares, jedem Ordnungsversuch Widerständiges – um ein Un-Endliches. In Anknüpfung an Joseph Addisons Bild vom Theater der Träume spielt Borges einleitend mit der These, Träume seien »die älteste und am meisten komplexe literarische Gattung« (Borges 1981a, 7).

»In einem Essays im ›Spectator‹ (September) 1712, der in diesen Band aufgenommen ist, bemerkt Joseph Addison, daß die menschliche Seele, wenn sie, des Körpers ledig, träumt, gleichzeitig Bühne, Schauspieler und Zuschauer ist. Wir können hinzufügen, daß sie auch der Verfasser der Fabel ist, die sie sieht. Ähnliche Äußerungen finden sich bei Petronius und Luis de Góngora.« (Buch der Träume, 7)

Diese These könnte ein Anlaß für den Versuch sein, »eine Weltgeschichte der Träume und ihres Einflusses auf die Literatur zu schreiben« (Borges 1981a, 7).

»Wenn wir Addisons Metapher wörtlich nehmen, könnte uns das zu der gefährlich attraktiven These verführen, daß Träume die älteste und die am meisten komplexe literarische Gattung sind. Diese merkwürdige These, der wir zum Gelingen dieses Vorworts und der Lektüre der Texte ohne weiteres zustimmen können, könnte es rechtfertigen, eine Weltgeschichte der Träume und ihres Einflusses auf die Literatur zu schreiben.« (7)

Zu differenzieren wäre, wenn diese hypothetische Geschichte zustandekäme, zwischen unterschiedlichen Traumtypen: zwischen »vom Schlaf« und »vom Wachen erfundenen Träumen«, zwischen prophetischen, allegorischen und satirischen Träumen und »den reinen Spielen von Lewis Carroll und Franz Kafka« (Borges 1981a, 7).
Das eigene Kompendium charakterisiert Borges als ein »Buch der Träume, welche die Leser wieder träumen werden« (Borges 1981a, 7). Analog zu der Vorstellung, daß Texte immer wieder neu gelesen, zitiert, geschrieben werden, erscheint also auch das Träumen als ein infiniter Prozeß der Wiederholung. Der Traum ist in mehr als einer Hinsicht Muster, Gleichnis, Analogon des literarischen Textes.
Träume implizieren eine Umkehrung gewohnter Bedingungsverhältnisse zwischen Wahrnehmung und subjektiver Empfindung – wie Borges unter Berufung auf Coleridge bemerkt:

»Coleridge hat geschrieben, daß im Wachen die Bilder die Empfindungen auslösen, während im Traum die Empfindungen die Bilder einflößen. (...) Beträte ein Tiger dieses Zimmer, wir würden Angst empfinden; wenn wir Angst im Traum empfinden, erzeugen wir einen Tiger. Das wäre der visionäre Grund für unsere Beunruhigung.« (Borges 1981a, 8)

Nicht nur Tiger, alle Dinge der Welt kämen, so Borges, als Gegenstände angsterzeugter Visionen in Frage.
Der Übersetzer des »Libro de Sueños«, Curt Meyer-Clason, weist darauf hin, daß Borges bei seiner Kompilation von Texten aus dem Griechischen, Chinesischen, Englischen, Französischen, Portugiesischen und Deutschen verschiedene Eingriffe in sein Textmaterial vorgenommen hat. Die Fassungen im »Libro de Sueños« geben nicht an, »ob sie auf freien Übertragungen fußen oder von Borges bearbeitet sind« (Nachbemerkung des Übersetzers CMC 181). Der Vergleich mit den Originalen zeigt aber, daß diverse Abweichungen und Kürzungen vorliegen. »So unterscheiden sich die spanischen Versionen von ›Gilgamesh‹, ›Geschichte des Kessi‹ und Platons ›Der Traum des Er‹ in Umfang und Stil so stark von den Originalen, daß Borges’ Wortlaute als Grundlage für die vorliegenden Übersetzungen dienen mußte. Seine Kürzungen von Papinis Zitat – um die Hälfte –, von Eça de Queirós – um ein Fünftel – wurden bei der Übersetzung aus dem Italienischen und portugiesischen berücksichtigt.« (Borges 1981a: Nachbemerkung Meyer-Clason, 181)
Die Traum-Kollektion folgt weder einem chronologischen noch einem alphabetischen Ordnungsprinzip. Zudem finden sich Texte von ganz verschiedener Länge – von mehrseitigen bis zu Texten aus wenigen Zeilen. Manche sind Zitate, manche bearbeitete Zitate, manche Nacherzählungen (von Borges); hinzu kommen Borges-Texte. neben Prosatexten finden sich Gedichte. Aus dem Inhalt:

  • Geschichte des Gilgamesh – Babylonische Erzählung aus dem zweiten Jahrtausend v. Christi Geburt (Nacherzählung von J. L. Borges)
  • Unendlicher Traum des Pao-yü – Ts’ao Hsüeh-ch’in, Der Traum der roten Kammer (um 1754)
  • Gott lenkt die Geschichte Josephs, des Sohnes Jakobs, und durch seine Vermittlung die Geschicke Israels. (Das erste Buch Moses)
  • Joseph, der Mundschenk und der oberste Bäcker Pharaos (Das erste Buch Moses) Es folgen weitere Träume aus dem AT, aus dem Ersten Buch Moses, aus dem Buch Daniel, aus Jesus Sirach, ferner ein Traum aus der Apostelgeschichte (NT).