D.
Darstellungsformen des Imaginären:
Jorge Luis Borges als Lexikograph
Phantastische Artenlehre. Borges’ »Libro de los seres imaginarios«

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Jorge Luis Borges, in Zusammenarbeit mit Margarita Guerrero: »El libro de los seres imaginarios« (1967; engl.: »The Book of Imaginary Beings«; dt.: »Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen«. Nach den Übersetzungen von Ulla de Herrera und Edith Aron bearbeitet u. ergänzt v. Gisbert Haefs. Nachwort v. Dietmar Kamper = J. L. Borges: Gesammelte Werke 8, München/Wien 1982)

Das vielleicht prominenteste und meistzitierte Beispiel literarischer Lexikographik bietet Borges mit seinem Lexikon der imaginären Wesen, dem »Libro de los seres imaginarios« (dt.: »Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen«). Dieses kann zwar zum einen als Informationsquelle über kultur- und literaturgeschichtlicher Tatsachen konsultiert, aber auch als literarisch-fiktionale Schilderung eines phantastischen Kosmos gelesen werden. Exemplarisch wird hier vor allem evident, welche Effekte das lexikographische Ordnungssystem hat: Es suggeriert die Existenz und objektive Beschreibbarkeit seiner Gegenstände und weist ihnen im kollektiven Wissen einen Ort zu.
Der Band besteht aus Artikeln über Fabelwesen, literarisch dokumentierte Traumerscheinungen und erfundene literarische Figuren. Eine frühere Version des Buchs erschien 1957 unter dem Titel »Manual de zoología fantástica« in Mexiko (dt.: »Einhorn, Sphinx und Salamander«, 1964); sie umfaßt 82 Artikel. Die zusammen mit M. Guerrero erstellte erweitere Neuauflage von 1967 enthält 116 Artikel (vgl. neben der selbständigen Publikation auch die einbändige Borges-Ausgabe »Obras completas en colaboración«, 1979). Eine nochmals erweiterte Neuausgabe publizierten Borges und sein amerikanischer Übersetzer Norman Thomas di Giovanni 1969 in englischer Sprache, diese Version ist auf 120 Artikel angewachsen (neu sind die Artikel: Ein Bericht über Dinge, die Mrs. Jane Lead aus London im Jahr 1694 erfuhr, sah und antraf; Chilenische Fauna; Der Karfunkel; Laudatores Temporis Acti). Außerdem erfolgten Ergänzungen älterer Artikel, teilweise in Form längerer englischer Zitate aus Referenztexten. Die deutsche Übersetzung beruht auf der einbändigen spanischen Gesamtausgabe von 1979 und den für die englische Ausgabe von 1969 verfaßten Addenda, wobei die Ergänzungen der Artikel um englische Zitate unberücksichtigt blieben; die spanische Ausgabe war der primäre Referenztext.
Im Vorwort betonen die Herausgeber, daß sich der Begriff des Imaginären durchaus weiter fassen ließe, als es durch die im folgenden präsentierten Artikel suggeriert werde; es solle jedoch ausschließlich um Wesen gehen, die von der menschlichen Phantasie erdacht wurden.

»Der Titel dieses Buches [El libro de los seres imaginarios] würde die Aufnahme des Fürsten Hamlet, des Punkts, der Geraden, der Oberfläche, des Hyperraums, aller Gattungsbegriffe und, vielleicht, eines jeden von uns und auch der Gottheit rechtfertigen. Das heißt, nahezu des ganzen Universums. Wir haben uns jedoch auf das beschränkt, was der Begriff ›imaginäre Wesen‹ unmittelbar anregt, wir haben ein Handbuch der seltsamen Geschöpfe zusammengestellt, die im Laufe der Zeit die menschliche Phantasie gezeugt hat. / Wir kennen den Sinn des Drachens ebenso wenig wie den Sinn des Universums, aber in seinem Bild ist etwas, das in Einklang steht mit der Vorstellungskraft der Menschen, und so erscheint der Drache in verschiedenen Gebieten und zu verschiedenen Zeiten. / Ein Buch dieser Art kann nur unvollständig sein; jede neue Ausgabe ist der Kern späterer Ausgaben, die sich ins Unendliche vervielfältigen können. / Wir laden den möglichen Leser in Kolumbien oder Paraguay ein, uns die Namen, die genaue Beschreibung und die auffälligsten Gewohnheiten der örtlichen Ungeheuer mitzuteilen. / Wie alle Miszellen, wie die unerschöpflichen Bände von Robert Burton, Fraser oder Plinius, wurde ›Das Buch der imaginären Wesen‹ nicht im Hinblick auf eine durchgehende Lektüre geschrieben. Es würde uns freuen, wenn die Neugierigen dieses Buch häufiger aufschlügen, wie jemand, der mit den wechselnden Formen spielt, die ihm ein Kaleidoskop offenbart. / Die Quellen dieser ›Silva de varia lección‹ sind vielfältig; wir haben sie zu jedem Artikel angeführt. Möge uns eine unfreiwillige Auslassung nachgesehen werden.« (S. 7 der dt. Ausg. Datiert auf September 1967, gez. J.L.B.-M.G.)

In den Artikeln werden imaginäre Wesen verschiedener Kulturkreise und Zeitalter porträtiert, meist unter Angaben zu ihrem Aussehen, den Orten ihres Vorkommens und den Texten, in denen sie beschrieben worden sind. Die Wesen entstammen teilweise der kollektiven Phantasie, teilweise den Beschreibungen einzelner Schriftsteller respektive bestimmten Texten; diese Quellen werden im »Libro« vielfach auch ausgewiesen (wie etwa im Fall des Artikels über »Eloi« und »Morlocks« in H.G. Wells’ Roman »The Time Machine«). Von ihren Beschreibern wurden die katalogisierten imaginären Wesen teilweise als Fiktionen betrachtet und präsentiert; teilweise scheinen sie aber auch an die Realität ihrer Geschöpfe geglaubt zu haben, wie die Artikel über Swedenborgs Dämonen und Engel sowie über die »Wärmewesen« aus den Visionen Rudolf Steiners zeigen. Zwischen imaginären Einzelwesen und ganzen Gattungen imaginärer Wesen unterscheidet das »Libro« bezüglich seines Darstellungsstils nicht; tendenziell werden erstere so behandelt, als repräsentierten die Individuen eine Gattung oder Art. Neben rein imaginären Kreaturen führt das »Libro« Wesen auf, die auch in konventionellen Wissenskompendien verzeichnet sind, denen die kollektive oder individuelle Imagination zeitweilig aber phantastische Eigenschaften zugeschrieben hat, so etwa Panther und Pelikan, deren Beschreibung sich weitgehend auf mittelalterliche Bestiarien stützt. Der Artikel über den »Odradek« besteht zur Gänze aus dem vollständig zitierten Text »Die Sorge des Hausvaters« von Franz Kafka.