Das vielleicht prominenteste und meistzitierte Beispiel literarischer Lexikographik bietet Borges mit seinem Lexikon der imaginären Wesen, dem »Libro de los seres imaginarios« (dt.: »Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen«). Dieses kann zwar zum einen als Informationsquelle über kultur- und literaturgeschichtlicher Tatsachen konsultiert, aber auch als literarisch-fiktionale Schilderung eines phantastischen Kosmos gelesen werden. Exemplarisch wird hier vor allem evident, welche Effekte das lexikographische Ordnungssystem hat: Es suggeriert die Existenz und objektive Beschreibbarkeit seiner Gegenstände und weist ihnen im kollektiven Wissen einen Ort zu.
Der Band besteht aus Artikeln über Fabelwesen, literarisch dokumentierte Traumerscheinungen und erfundene literarische Figuren. Eine frühere Version des Buchs erschien 1957 unter dem Titel »Manual de zoología fantástica« in Mexiko (dt.: »Einhorn, Sphinx und Salamander«, 1964); sie umfaßt 82 Artikel. Die zusammen mit M. Guerrero erstellte erweitere Neuauflage von 1967 enthält 116 Artikel (vgl. neben der selbständigen Publikation auch die einbändige Borges-Ausgabe »Obras completas en colaboración«, 1979). Eine nochmals erweiterte Neuausgabe publizierten Borges und sein amerikanischer Übersetzer Norman Thomas di Giovanni 1969 in englischer Sprache, diese Version ist auf 120 Artikel angewachsen (neu sind die Artikel: Ein Bericht über Dinge, die Mrs. Jane Lead aus London im Jahr 1694 erfuhr, sah und antraf; Chilenische Fauna; Der Karfunkel; Laudatores Temporis Acti). Außerdem erfolgten Ergänzungen älterer Artikel, teilweise in Form längerer englischer Zitate aus Referenztexten. Die deutsche Übersetzung beruht auf der einbändigen spanischen Gesamtausgabe von 1979 und den für die englische Ausgabe von 1969 verfaßten Addenda, wobei die Ergänzungen der Artikel um englische Zitate unberücksichtigt blieben; die spanische Ausgabe war der primäre Referenztext.
Im Vorwort betonen die Herausgeber, daß sich der Begriff des Imaginären durchaus weiter fassen ließe, als es durch die im folgenden präsentierten Artikel suggeriert werde; es solle jedoch ausschließlich um Wesen gehen, die von der menschlichen Phantasie erdacht wurden.
In den Artikeln werden imaginäre Wesen verschiedener Kulturkreise und Zeitalter porträtiert, meist unter Angaben zu ihrem Aussehen, den Orten ihres Vorkommens und den Texten, in denen sie beschrieben worden sind. Die Wesen entstammen teilweise der kollektiven Phantasie, teilweise den Beschreibungen einzelner Schriftsteller respektive bestimmten Texten; diese Quellen werden im »Libro« vielfach auch ausgewiesen (wie etwa im Fall des Artikels über »Eloi« und »Morlocks« in H.G. Wells’ Roman »The Time Machine«). Von ihren Beschreibern wurden die katalogisierten imaginären Wesen teilweise als Fiktionen betrachtet und präsentiert; teilweise scheinen sie aber auch an die Realität ihrer Geschöpfe geglaubt zu haben, wie die Artikel über Swedenborgs Dämonen und Engel sowie über die »Wärmewesen« aus den Visionen Rudolf Steiners zeigen. Zwischen imaginären Einzelwesen und ganzen Gattungen imaginärer Wesen unterscheidet das »Libro« bezüglich seines Darstellungsstils nicht; tendenziell werden erstere so behandelt, als repräsentierten die Individuen eine Gattung oder Art. Neben rein imaginären Kreaturen führt das »Libro« Wesen auf, die auch in konventionellen Wissenskompendien verzeichnet sind, denen die kollektive oder individuelle Imagination zeitweilig aber phantastische Eigenschaften zugeschrieben hat, so etwa Panther und Pelikan, deren Beschreibung sich weitgehend auf mittelalterliche Bestiarien stützt. Der Artikel über den »Odradek« besteht zur Gänze aus dem vollständig zitierten Text »Die Sorge des Hausvaters« von Franz Kafka.