D.
Darstellungsformen des Imaginären:
Jorge Luis Borges als Lexikograph
Kartierung von Himmel und Hölle: »Buch von Himmel und Hölle« (»Libro del Cielo y del Infierno«)

Einem ähnlichen Konzept wie das Buch der imaginären Wesen ist das von Borges gemeinsam mit Adolfo Bioy Casares zusammengestellte »Buch von Himmel und Hölle« (1960: Libro del Cielo y del Infierno) verpflichtet (Aus d. Span v. Maria Bamberg. Stuttgart 1983). Hier finden sich vor allem Engel und Dämonen porträtiert, und die Beschaffenheit von Himmel und Hölle wird unter Verweis auf vielfältige Quellen beschrieben. Die Informationen des Textes werden ergänzt durch Illustrationen. Wieder läßt sich das lexikographische Werk einerseits als (in diesem Fall primär kultur- und religionswissenschaftliches) Wissenskompendium nutzen, zum anderen als implizite Thematisierung der imaginären Anteile an jeglichem Wissen.

Was motiviert das Interesse von Borges an imaginären Wesen? Diese sind – zunächst und vor allem Buch-Phänomene (so wie die Träume und die Himmels- und Höllen-Szenarien auch). Woher wüßten wir von ihnen, wenn nicht aus Handschriften und Büchern? Heute haben die technischen Bildmedien hier die zentrale Informationsfunktion übernommen, aber was sie zeigen, könnten sie nicht zeigen, wenn nicht die Handschriften und Bücher die Erinnerung an die Fabelwesen früherer Zeiten lebendig erhalten hätten. Fabelwesen tauchen in Handschriften und Büchern auf; hier ist der ihnen zugeordnete Raum – und die Beschäftigung mit ihnen ist Beschäftigung mit dem Medium Text bzw. Buch und seinen Funktionen. Wichtig ist insbesondere seine Schwellenfunktion zwischen sogenanntem Wirklichem und sogenanntem Imaginärem. Wer sich für Fabelwesen interessiert, interessiert sich indirekt auch für Bücher – und umgekehrt. Das Buch, Borges’ Lieblingsthema, wird im Essay über »Das Buch« so charakterisiert:

»Unter den verschie­denen Werkzeugen des Men­schen ist das erstaun­lichste zweifellos das Buch. Die anderen sind Er­weiterungen seines Körpers. Mikro­skop und Tele­skop sind Erweiterungen des Sehens; das Telefon ist eine Erweiterung der Stimme; dann haben wir Pflug und Schwert, Erweiterungen des menschlichen Arms. Aber das Buch ist et­was an­deres: es ist eine Erweite­rung des Gedächt­nisses und der Phantasie / In ›Caesar und Kleopatra‹ von Shaw heißt es über die Bibliothek von Alexandria, sie sei das Gedächtnis der Menschheit. Dies ist das Buch, und es ist auch noch mehr, die Phantasie. Was ist denn unsere Vergangenheit als eine Reihe von Träumen? Welchen Unterschied kann es zwischen der Erinnerung an Träume und der Erinnerung an die Vergangenheit geben? Dies ist die Funktion des Buchs.« (Jorge Luis Borges: Das Buch. In: Essays 1952-1979 (Borges 1981b, 227)

Mit seinen Enzyklopädien imaginärer Gegenstände (Fabelwesen, Träume, Himmels- und Höllenbilder) erkundet Borges demnach die Möglichkeiten, die das Buch bietet.

Vgl auch den Artikel »T. Tlön«