E.
Enzyklopädisch-lexikographische Schreibprojekte
Sprachliche Bestandsaufnahmen: Andreas Okopenkos Lexikonromane

»Meteoriten. Roman« (1976) – »Lexikon einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden« (1983)

Formal unterschiedlich konzipiert, nutzen Okopenkos Romane die Form der alphabetisierten Enzyklopädie zur Dynamisierung und Multiplikation des Textes, der im einen Fall durch Verweisungsstrukturen (Pfeile) eine nicht-lineare, labyrinthisch wirkende Gestalt annimmt, im zweiten Fall stark partikularisiert wird. Auch die bei Okopenko darstellerisch evozierte Welt ist vor allem eine Sprachwelt und die Bücher enthalten vielfältige satirisch übersteigerte sprachsoziologische Beobachtungen. Okopenkos beide Lexikonromans sind strukturell verschieden; sie stellen aber beide schwerpunktmäßig die zeitgenössische Gesellschaft dar, und zwar vorzugsweise über ihre sprachlichen Verhaltensweisen: Sprachliche Bestandsaufnamen, schonungslos.

»Beide Romane imitieren die alphabetische Form des Lexikons, beide sind nach dem paratextuellen Muster des Lexikon-Vorworts mit einer ›Gebrauchsanweisung‹ versehen, beide geben darin Anweisung zu einem Nichtlinearen ›Lesen in Möglichkeiten‹ das durch Kombination der vorhandenen Elemente eine große Anzahl von potentiellen Romanen erzeugen kann. Der Lexikon-Roman erweist sich damit nicht eigentlich als Roman, sondern vielmehr als Roman-Generator. Er schaltet nicht nur den Autor, sondern auch den Text im üblichen Sinne aus und setzt eine enzyklopädische Lektüre als literarische Schreibweise absolut.« (Kilcher 2003, 272)

Okopenkos »Möglichkeitsroman« bedient sich dazu neben der alphabetischen Struktur auch der Hinweispfeile. In der »Gebrauchsanweisung« heißt es:

»Wer hat nicht schon im Lexikon, GOLDSCHMINKE nachschlagen wollend, erst einmal den Artikel über GOLDONI, dann den über GOLDREGEN gelesen, dort auf LABURNUM verwiesen, die Einrichtung von LABORATORIEN gestreift, Interesse an der Herstellung eines Chlorkalziumröhrchens gefaßt, das Glasblasen erlernt [...]. Auch dieses Vergnügen können Sie haben: Sie brauchen nur kreuz und quer durch mein Lexikon zu lesen. [...] Blättern Sie [...] wahl- und gedankenlos in dem Buch oder benützen Sie das Würfelspiel Ihres Kindes.« (Okopenko, 1970)

Diese Aufforderung zur kreativen, dabei neigungs‑ und zufallsgesteuerten Lektüre ist charakteristisch für autoreflexive Lexikonromane. Sie wiederholt sich in modifizierter Form bei Milorad Pavić (»Das Chasarische Wörterbuch«).