E.
Enzyklopädisch-lexikographische Schreibprojekte
Sten Nadolnys imaginärer Lexikonroman

Sten Nadolny: Das Erzählen und die guten Absichten. Die Göttinger und Münchener Poetik-Vorlesungen. München/Zürich 2001


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Sten Nadolny hat in seinen Münchner Poetik-Vorlesungen »Das Erzählen und die guten Absichten« (zuerst 1990) das Thema Lexikographik und lexikographisches Schreiben ausführlich behandelt. Die große Zeit der Lexika und des Vertrauens in Lexika ist aus seiner Sicht vergangen; der Gebrauch von Lexika erscheint als Ausdruck eines Wissens-Optimismus, der zum (mittlerweile obsoleten) Fortschrittsoptimismus der frühen Moderne gehört und eng mit der bürgerlichen Kultur verbunden ist. In Enzyklopädien und Konversationslexika war die verfügbare Welt in kondensierter, überschaubarer, handlicher Form aufbereitet; solches Wissen hielt den Wechseln der Lebensverhältnisse stand.

»In der Zeit um 1900, die man bereits nach dem Ersten Weltkrieg die ›gute alte‹ nannte, gab es hierzulande noch ein unerschütterliches Vertrauen in das gelehrte Wissen und deshalb auch die sichere Annahme, daß große Ansammlungen von Wissen das Leben bereichern und dem Fortschritt zum Sieg verhelfen könnten. Ich behaupte nicht, daß das falsch war, wir sind nur nicht mehr so optimistisch. Die Wissensansammlungen waren für Geld zu haben, hießen ›Enzyklopädie‹ oder ›Konversationslexikon‹ und standen als Prestigemöbel im Wohnzimmer. In ihnen war von ›Aa‹ bis ›Zz‹ alles an Fakten, Definitionen, Interpretationen zu finden, was die Wissenschaft zu bieten hatte. Sie überstanden Umzüge, wirtschaftliche, politische und moralische Katastrophen, Bombennächte, weitere Umzüge und viel, viel Staub. Ihre goldenen Titel auf Lederrücken glommen im Dunkel der Keller, Speicher und Antiquariate vor sich hin, bis sie in der Zeit des Wirtschaftswunders wieder etwas galten und erneut in die Vitrine wanderten, jetzt weniger Prestige- als Nostalgieobjekte. Der Vater tat, was Großvater getan hatte: er [...] stand mit dem Ruf ›Das werden wir gleich haben!‹ vom Tisch auf und klärte im Band ›Lyrik bis Mitterwurzer‹ den Fall ›Metronom‹ und mit ihm gleich auch den Fall ›Mälzl, Johann Nepomuk, Mechaniker‹.« (Nadolny, 27)