N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Ambrose Bierce und sein teuflisches Wörterbuch

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Rabeners Idee eines satirischen Wörterbuches ist im späten 19. Jahrhundert nochmals aufgegriffen worden: von dem amerikanischen Literaten und Journali­sten Ambrose Bierce, der seit 1881 eine Folge von satirisch-zynischen Definitio­nen für die Wochenzeitschrift »The Wasp« (San Francisco) schrieb und eine größere Zahl 1906 zu einem Buch zusammenfaßte. Zunächst »The Cynic's Word Book« betitelt, erhielt dieses in der Ausgabe von 1911 den heute bekannten Titel »The Devil's Dictionary«.

»The Devils's Dictionary« ist Bestandteil der zwölfbändigen Bierce-Werkausgabe von 1911. In deutscher Sprache liegen hieraus zwei Auswahlbände vor, nach denen im folgenden zitiert wird: 1) Ambrose Bierce: Aus dem Wörterbuch des Teufels. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Dieter E. Zimmer. Frankfurt 1980 (zuerst 1966) = WT. – 2) Ambrose Bierce: Des Teufels kleines Wörterbuch. Seinen Klauen entrissen und ins Deutsche übertragen von Hans Petersen. Hanau o.J. (Nachwort: 1983) = TW

Bierce radikalisiert die alte Idee, legt sein »Wörter­buch« als bissiges Spiegelbild der modernen Gesell­schaft und ihrer ausschließlich vom Eigennutz getriebenen, dummen oder be­rechnend-schlauen, in jedem Fall aber asozialen Mitglieder an. Seine Intention ist zwar moralisch, gleichwohl blickt die Freude an sozialen, politischen und charakterlichen Mißständen durch die Artikel hindurch, insofern diese Miß­stände ja notwendiger Anlaß zu oftmals verblüffenden literarisch-definitori­schen Einfällen sind. Die größere Zahl der Artikel sind sehr knapp und prägnant gehalten; nur in Einzelfällen werden Episoden als Belege oder Illustrationen der »Definitionen« erzählt oder anstelle einer Definition Sinnsprüche und Verse ein­gefügt. Gegenstand der Satire ist gleichsam jeder und alles, vor allem aber jede Spielart von Macht und Autorität. In Grund und Boden definiert werden neben der staatlichen Macht vor allem die Kirche und die von ihr vermittelten Glau­bensinhalte, das Militär, der Patriotismus, die Schriftstellerei – und die unzähli­gen Unarten der einzelnen Menschen. Wieder einmal verrät sich das Übel im und durch den Sprachgebrauch.

Viele der Artikel bei Bierce spielen auf Zeitgenössisches an, auf kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten zur Zeit der Entstehung des Dictionary, auf tagespolitische Ereignisse und Figuren der zeitgeschichte. Sie sind heute nur noch mit Erläuterungen verstehbar. Manche Artikel sind Kalauerartik, etwa wenn der »Hebrew« als männliches Pendant zur »Shebrew« erläutert wird. Interessanter erscheinen Artikel, die sich dem Thema Sprache oder bestimmten Typen menschlichen Verhaltens widmen. Das Selbstverständnis des Satirikers drückt sich indirekt (via negationis) im Artikel über Satire aus:

»Satire subst. fem. Eine veraltete Literaturgattung, in der die Laster und Torheiten der per­sönlichen Feinde des Autors mit mangelhaftem Zartgefühl dargelegt werden. (...) weshalb der Sa­tiriker allgemein als schuftiger Griesgram gilt und jeder Hilferuf eines seiner Opfer nationale Zustimmung findet.« (WT 96f.)