N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Georg Christoph Lichtenbergs Beitrag zum »Wörterbuch«

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Rabener ruft in der Vorbemerkung seine »Landsleute« dazu auf, Bei­träge zum »Wörterbuch« zu liefern (R II 4). Im »Beitrag wiederholt er diesen Aufruf und fügt sogar eine Liste von 20 Wörtern bei, deren Bedeutung ihm an­geblich besonders ›zweideutig‹ und ›unbestimmt‹ erschien, so daß sich eine Un­tersuchung hier anbot; die Wörter entstammen wiederum dem Bereich der Mo­ral und der intellektuellen Vermögen sowie der Ästhetik (R II 33f.).

Rabener starb 1771; etwa zur gleichen Zeit greift Lichtenberg die Anregung auf. Seine wenigen »Beiträge zu Rabeners Wörterbuch«, die Artikel zur den Stichworten Aber, Afterreden und Instinkt, waren vermutlich für ein Journal bestimmt, wurden – soweit bekannt – aber nie publiziert. (Vgl. den Kommentar zu Bd. III von Lichtenbergs Schriften, S. 233. Der Text kann, wie hier ausgeführt, nicht vor 1771 entstanden sein.) Die in Lichtenbergs Text erörterten drei Stichworte hatten nicht auf Rabe­ners Vorschlagsliste gestanden. Von der im »Wörterbuch« so schematisch umge­setzten Konzeption seines Anregers weicht Lichtenberg außerdem beträcht­lich ab, so daß zu fragen ist, warum er seine drei Texte überhaupt mit jenem Pro­jekt in Verbindung bringt. Auch sind die drei Artikel selbst sehr unterschiedlich angelegt. Was sie untereinander – und mit Rabeners Artikeln – verbindet, ist al­lein die Tatsache, daß jeweils ein bestimmtes Wort Anlaß zu moralischen Reflexionen gibt.

Nur der Artikel Aber (L III 502f.) ist durchgängig im satirischen Ton gehalten und auch dem Inhalt nach eine reine Satire. Zum Gegenstand der Kritik wird die üble Nachrede, mit welcher Nichtstuer und Neider rechtschaffene Personen aus Langeweile oder blanker Bosheit überziehen. Zwar seien die Nachredner oft ge­zwungen, die Verdienste der Rechtschaffenen anzuerkennen, doch pflegten sie solchem Lob eine gravierende Einschränkung oder gar eine Verleumdung anzu­hängen – eingeleitet eben durch das Wörtchen aber.

»Aber ist ein kleines, aber bei der heutiges Tages so sehr florierenden Medisance [= Läster­sucht] unentbehrliches Wörtgen. Mancher sieht sich oft in den Fall gesetzt, dessen Lob sonst ein Dekokt von Ipecacuanha [= ein Brechmittel] für ihn ist. Doch um den Beifall etwas zu modifizieren, weiß er die schlechte Seite mit der gerühmten durch ein geschickt angebrachtes Aber sehr gut zu verbinden. Es gibt Leute, und ich habe deren mehrere gekannt, die nieman­den loben, noch nicht einmal jemanden loben hören können, ohne das Lob auf eine witzige Art zu glossieren; und solche Damen und Herren würden sich nun freilich in einer mitlei­denswürdigen Verlegenheit befunden haben, oder noch befinden, wenn es kein Aber gäbe.« (L III 502)

»(...) Nun wie gefiel Ihnen gestern Herr X.? fing Madame an, er soll der ordentlichste rechtschaffenste Mann sein; – aber letzthin wollte jemand (503) einen Menschen von seiner Statur in ein gewisses Haus hinein- und aus demselben heraus mit einer Frauensperson wieder heraus spät über den Kirchhof haben gehen sehen. Man muß zwar von jedem Menschen das Beste denken und reden; aber das kann niemand anders gewesen sein als er. Der Pastor Z. predigt sehr gut, nimmt sich seiner Gemeinde sorgfältig an, besucht Patienten sehr gerne, – aber (warf der Herr Sekretär mit einer vielbedeutenden Miene ein) Patientinnen noch lieber. Frau Y. ist ein rechtes Muster von Tugend und ehelicher Treue, sie verläßt das Bette ihre kränkelnden Mannes nie; – aber wohl – fiel der Herr Abt ins Wort – wenn er schläft und ihr Doktor da ist.« (L III 502f.)

Mit Aber-Sätzen also finden besonders üble Neigungen und Motive zur Sprache. Die Welt der verleumderischen Müßiggänger, der weiblichen und männlichen Klatschtanten wird mit dem Gestus satirisch-ironischer Rechtfertigung karikiert; Lichtenberg ersinnt kleine Ge­sprächsszenen, statt allgemeine Sätze zu formulieren, individualisiert also das thematisierte La­ster im Zuge seiner Darstellung, ohne doch dabei vergessen zu machen, daß sich hinter den Aber-Sätzen ein allgemeines Prinzip verbirgt.