N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gustave Flaubert: »Dictionnaire des idées reçues« (»Sottisier«)

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Ein zeit- und diskurskritisches Wörterbuch hat auch Gustave Flaubert geschaffen: Gustave Flaubert: ›Dictionnaire des idées reçues‹/Sottisier (ab 1872; erste partielle Publ. 1884; dt.: Universalenzyklopädie der menschlichen Dummheit. Ein Sottisier. Hg., übers. u. kommentiert v. Hans-Horst Henschen. Berlin 2004. Dazu ergänzend: Transkribierte Handschriften und Kommentare. hg., übers. u. annot. v. Hans-Horst Henschen. Berlin 2004.

Flauberts »Dictionnaire des idées reçues«, auch »Sottisier« genannt, hat im Kontext der literarischen Enzyklopädien einen Sonderstatus – und zwar in mehrerlei Hinsicht:
(1) Es geht mit diesem (unabgeschlossenen und grundsätzlich unabschließbaren) Projekt um eine ›enzyklopädische‹ Darstellung menschlicher Diskurse und Diskursformen. Die (bürgerliche) Wissensgesellschaft des 19. Jahrhunderts soll durch umfassende Dokumentation ihrer Textzeugnisse porträtiert werden. Das enzyklopädische Unternehmen besteht deshalb, weil es der Dokumentation schriftlicher Zeugnisse gilt, in einer Wiederholung dieser Zeugnisse; diese werden zitiert (sei es ganz, sei es auszugsweise). Insofern sind in diesem Sonderfall von Enzyklopädistik das Dargestellte (der Gegenstand des zu vermittelnden Wissens) und die Darstellung (die Enzyklopädie) ganz oder doch teilweise kongruent. Die Wissensgegenstände selbst und ihre Enzyklopädie sind Doubles, sind mimetisch aufeinander bezogen, ja sie sind ›identisch‹ (wenn man denn davon ausgeht, daß ein Zitat identisch mit dem zitierten Text ist). Anders gesagt: In dieser Enzyklopädie stellt sich das, was vermittelt werden soll, selbst dar, bedingt dadurch, daß es sich um sprachlich-schriftlich verfaßte Gegenstände handelt. (Zumindest vergleichbar wäre dies mit der ›enzyklopädischen‹ Darstellungsform in Gestalt eines naturkundlichen Museums – wo die Exponate zum einen das Darstellungsmedium, zum anderen der Inhalt bzw. Gegenstand der Darstellung sind. Eine Vitrine von nach bestimmten Prinzipien geordneten ausgestopften Vögeln ist zum einen ein Komplex von darstellenden Zeichen für ein bestimmtes Segment der Vogelwelt, zum andern handelt es sich ja materialiter um Vögel, wenn auch um tote. – Analoges gilt für ein Herbarium, eine Kollektion von Materialien, Stoffe, physikalischen Substanzen, aber auch für andere Sammlungen, die ein im weiteren Sinn enzyklopädisches Anliegen verfolgen.)
(2) Flauberts Kollektion an Texten bildet eine Art Schwellenraum zwischen fiktionsinterner und historischer Realität (Welt des Autors). Denn zum einen handelt es sich ja um Text-Materialien, die seine beiden Figuren Bouvard und Pécuchet sammeln, abschreiben und zu ordnen versuchen, zum anderen hat Flaubert selbst seine Materialien ja gesammelt, teilweise abgeschrieben und versuchsweise geordnet. Der Leser des »Sottisier« selbst liest gleichsam, was die fingierten Personen Bouvard und Pécuchet gesammelt haben.
(3) Um Unterschied zu Enzyklopädien, welche eine geordnete Fülle an Wissen bieten möchten, ist der »Sottisier« eine unordentliche Kollektion. Nicht einmal das Alphabet wird als Ordnungsprinzip eingesetzt; es wäre allerdings auch extrem unbrauchbar.