N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Ambrose Bierce und sein teuflisches Wörterbuch
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Ein Vergleich mit Rabener bietet sich vor allem dort an, wo Bierce gleiche oder ähnliche Stichwörter behandelt; andere Artikel erinnern an Lichtenberg. Einige Beispiele aus der deutschen Übersetzung (die alphabetisch bedingt eine andere Wortfolge bietet und viele Artikel ausgelassen hat, die nur aus dem Horizont der Zeit und der Epoche von Bierce verständlich sind):
»Bewundern verb. tr. Erwartungsvoll umschmeicheln.« (WT 17) – Demut subst. fem. Geziemende und übliche Geisteshaltung in Gegenwart von Reichtum oder Macht. Besonders angebracht, wenn sich ein Arbeitnehmer an einen Arbeitgeber wendet.« (WT 20) – »Höflichkeit subst. fem. Die annehmbarste Form der Heuchelei.« (WT 50) – »Kompliment zinsbringendes Darlehen« (TW 57) – Vgl. Rabener: Compliment. – »Eid subst. masc. Im Rechtswesen: die feierliche Berufung auf ein göttliches Wesen, welche für das Gewissen dadurch verbindlich gemacht wird, daß auf Meineid Strafe steht.« – Vgl. Rabener: Eidschwur – »Ehrbarkeit subst. masc. Der Sproß einer Liaison zwischen einer Glatze und einem Bankkonto.« (WT 22) – »Heiliger subst. masc. Ein toter Sünder, überarbeitet und neu herausgegeben.« (WT 49) – Vgl. Rabener: ehrwürdig. – »Gelehrsamkeit subst. fem. Staub, der aus einem Buch in einen leeren Schädel geschüttet wurde. Das Unwissen, das den Fleißigen auszeichnet.« (WT 37) – »Belehren verb. tr. Seinem Nachbarn einen Irrtum aufdrängen, welcher sich vorteilhaft von dem unterscheidet, an den zu klammern er dahin für gut befand.« (WT 15) – »Wissen eine besondere Art von Unwissenheit, die von zivilisierten Völkern zur Schau gestellt wird (...)« (TW 102) – Vgl. Rabener: gelehrt. – »Philanthrop reicher (und meist kahler) alter Herr, der zu lächeln versteht, während sein Gewissen ihm in die Tasche greift« (TW 71) – Vgl. Rabener: Menschenfeind. – »Pflicht subst. fem. Das, was uns unerbittlich auf dem Weg unserer Wünsche dem Vorteil entgegentreibt.« (WT 80) / »Pflicht Zwang zum Profit, gesteuert von der Gier« (TW 70) – Vgl. Rabener: Pflicht. – »Vernunft subst. fem. Vorurteilstendenziat.« (WT 119) – »Vernünftig adj. Frei von allen Selbsttäuschungen, mit Ausnahme der aus Beobachtung, Erfahrung und Nachdenken bezogenen.« (WT 11) – »Verständig adj. Anfällig für die Infektion durch unsere eigenen Ansichten. Empfänglich für unsere empfehlenden oder warnenden Reden und Ausreden.« (WT 120) – »Intelligenz Gehirnsekretion, die dazu befähigt, ein Haus von einem Pferd anhand des Daches zu unterscheiden« (TW 48) – Vgl. Rabener: Verstand. – »Patriot subst. masc. Jemand, dem die Interessen eines Teils über die Interessen des Ganzen gehen. Der Gimpel der Politiker und das Werkzeug der Eroberer.« (WT 79) / »Patriotismus subst. masc. Entflammbarer Müll, der für die Fackel des Ehrgeizlings bereit liegt, welcher seinen Namen ins rechte Licht rücken will.« (WT 79) – Vgl. Rabener: deutsch. – »Geistlicher subst. masc. Ein Mann, der sich unserer geistlichen Angelegenheiten annimmt, um seine weltlichen zu fördern.« (WT 37) – Vgl. Lichtenberg: Instinkt. – »Verleumden verb. tr. Lügen über einen anderen verbreiten. Die Wahrheit über einen anderen verbreiten.« (WT 119) / »Gerücht Lieblingswaffe des Rufmörders« (TE 41) – Vgl. Lichtenberg: Aber, Afterreden.
Wo bei Rabener und Lichtenberg hinter dem jeweils entlarvten gesellschaftlichen und sprachlichen Mißstand der wünschenswerte Zustand als Positiv zu jenem Negativ sichtbar wurde, bleibt bei Bierce nichts an Positivem übrig. Wahrheit selbst relativiert sich im Spiel mit den Begriffen. Wiederholt und bekräftigt wird der Befund von der Sprache als Spiegel der Gesellschaft und der Individuen.
In einer Welt der falschen Moral(en) kann nurmehr in ironisch-teuflischen Umkehrungen eine Idee von moralischen Maßstäben vermittelt werden – und sei es, daß dabei – in Angleichung an die allgemeingültigen »Begriffe« von Moral – deren radikale Mißachtung behauptet wird.
»Moralisch adj. In Übereinstimmung mit einer lokalen und veränderlichen Rechtsnorm. Von allgemeiner Vorteilhaftigkeit (...).« (WT 70) / »Tugenden subst. fem. pl. Gewisse Enthaltsamkeiten.« (WT 110) / »Unmoralisch adj. Unvorteilhaft. Alles, was die Menschen auf die Dauer und in der mehzahl der Fälle allgemein unvorteilhaft finden, wird schließlich als falsch, böse und unmoralisch angesehen. Wenn der menschliche Begriff von Gut nd Böse irgend einen anderen Grund als den der Vorteilhaftigkeit hat; wenn er irgendeinen anderen Ursprung hat oder haben könnte; wenn Handlungen an sich schon ein moralischer Charakter eigen ist, der mit ihren Konsequenzen nichts zu tun hat und von ihnen in keiner Weise abhängig ist – dann ist die ganze Philosophie eine einzige Lüge und Vernunft eine Geistesstörung.« (WT 114)
Das Prinzip der ironischen Rede, wie es schon bei Rabener maßgeblich war, illustriert am besten zwei »Definitionen«. Die zum Stichwort »Weiß« lautet: »Schwarz« (WT 124). Und die zum Begriff »Wirklich« lautet »Scheinbar« (WT 125).
Bierce ist Aufklärer wie Rabener und Lichtenberg, wenn auch skeptischer und zynischer. Alle drei Sprach-Satiriker betrachten Sprache als etwas Gestaltbares, Flexibles, das Leben der Sprachbenutzer im Inneren Prägendes, das aber oft durch seinen entstellenden Gebrauch die Deformationen des gesellschaftlichen Lebens spiegelt (und bekräftigt). Die Idee »wahrer Namen« wird allenfalls noch ironisch herbeizitiert und verdreht. Basis aller Bezeichnungspraxis ist die Konvention – die manchmal lächerlich oder inkonsequent sein mag, aber nicht »von außen« zu korrigieren ist – allenfalls »von innen«: etwa indem Sprachliches beim Wort genommen und dabei in seiner Verdrehtheit entlarvt wird, indem Absurditäten der Redepraxis auf die Spitze getrieben werden.
Noch einmal Bierce:
»Wörterbuch subst. neutr. Eine bösartige literarische Vorrichtung, die das Wachstum einer Sprache hemmt und sie starr und unelastisch macht. Das vorliegende Wörterbuch hingegen ist ein höchst nützliches Werk.« (WT 125) – »Wortverdreher Lügner im Raupenstadium.« (Ambrose Bierce, TW 102)