N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gottlieb Wilhelm Rabener: »Versuch eines deutschen Wörterbuchs«

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Der im 18. Jahrhundert vielgelesene Satiriker Gottlieb Wilhelm Rabener veröf­fentlichte 1745 im dritten Band der »Bremer Beiträge« seinen »Versuch eines deutschen Wörterbuchs« sowie einen »Beitrag zum deutschen Wörterbuch«. Der »Versuch« enthält Erläuterungen und Reflexionen zu den Wörtern: Compli­ment, Eidschwur, Ewig, Ehrwürdig, Gelehrt, Menschenfeind, Pflicht und Verstand; im »Beitrag« folgen Kommentare zu den Wörtern Deutsch und Fabel. Rabener greift mit seinem »Wörterbuch« auf eine ältere anonym publizierte Idee zurück. Im Jahr 1742 war in der Königsberger Wochenschrift »Der Einsiedler« ein Beitrag erschienen, in dessen Mittelpunkt der »Versuch eines moralischen Wörterbuches« stand (Der Einsiedler, II. Jahrgang 1742, 98. Stück. S. 362). Ein ungenannter Verfasser hatte der Zeitschrift Beiträge zu einem solchen Wörterbuch geliefert, und Rabener hat hierher wohl die Anregung zu seiner Satire bezogen. Seine Artikel Compliment und Eidschwur korrespondieren den Artikeln Ceremonie und Eyd­schwur im »Einsiedler«. Rabener hat den »Versuch« mit einer Vorbemer­kung eingeleitet, die sein Anliegen scheinbar erläutert. Zu erörtern wäre demnach der geläufige Gebrauch einzelner Wörter zum Zweck seiner vernünftigen Bereini­gung und Vereinheitlichung. Es gälte, eine richtige und allgemeinverbindliche Zuordnung zwischen Namen und jeweils Be­nanntem zu treffen.

»Da einige Gelehrte unter uns so muthig sind, und es wagen, ihrer deutschen Muttersprache sich nicht weiter zu schämen; so werde ich es verantworten können, daß ich mir vorgenommen habe, durch gegenwärtigen Versuch den Plan zu einem vollständigen deutschen Wörterbuche zu ent­werfen.
Ich habe gefunden, daß viele deutsche Wörter so unbestimmt sind, daß oftmals derje­nige, der sie braucht, etwas ganz Anderes dabei denkt, als er eigentlich denken sollte; und derje­nige, der sie hört, wird, wo nicht gar betrogen, doch leicht irr gemacht. / Es wird daher unum­gänglich nöthig sein, daß die Gelehrten sich mit vereinten Kräften bemühen, die wahrhaften Be­deutungen der Wörter festzustellen.« (Rabener, II 3)

Die benannten Inhalte sind aus der Erörterung von Benennungen nun zwar nicht auszuklammern; Rabeners »Wörterbuch« wäre, wie er selbst konzediert, darum zugleich ein »Reallexicon« (R II 4). Mit gespielter Naivität werden die Signifikate der Wörter als etwas Selbstverständliches behandelt, dem man beliebige al­ternative »Namen« zuordnen kann. Mit einer kritischen Sichtung und Korrektur des Zuordnungsverhältnisses zwi­schen Wörtern und dem, was sie benennen, verbände sich – so die Suggestion – ein praktischer Nutzen, nämlich die Optimierung der Kommunikation: Alle Sprecher werden nach Klärung des Bezugs von Wort und ›Realie‹ bei ein- und demselben Wort dasselbe denken; Mißverständnisse, welche aus der falschen Benennung des jeweils Gedachten resultieren, werden ausgeräumt. Was mit all dem umschrieben wird, ist dies: Viele Sprachbenutzer bedienen sich bestimmter Wörter in irreführender Weise: Sie wollen damit etwas schönreden oder kleinreden, ja denunzieren; sie wollen sich selbst besser erscheinen lassen, als sie sind, wollen andere täuschen – oder sind auch einfach nur zu nachlässig, um über die Bedeutung dessen nachzudenken, was sie sagen.