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Orpheus und das Wörterbuch – Poetische Sprachreflexion und Sprachexploration bei Francis Ponge
Poetische Erkundungen in und mit Wörterbüchern:
Francis Ponge

Francis Ponge: Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine. Deutsch von Peter Handke. Frankf./M. 1982. »Le Carnet du bois de pins« und »La Mounine ou Note après coup sur un ciel de Provence« erschienen zusammen erstmals 1952 in Ponges Band »La Rage de l'expression«. »Le Carnet« war fünf Jahre zuvor schon als Einzeltext erschienen. – In der Übersetzung Handkes liegt von Ponge außerdem vor: Francis Ponge: Kleine Suite des Vivarais. Salzburg/Wien 1988.

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In einer späteren Partie des »Notizbuchs vom Kiefernwald« finden sich noch weitere Auszüge aus dem Littré, an die sich teilweise eigene Überlegungen bzw. Notizen knüpfen – Notizen, welche die Verwendbarkeit des jeweiligen Wortes, seine Herkunft und seine Ausdrucksvaleurs betreffen; außerdem enthält die kommentierte Wörterliste Hinweise auf Wendungen und Redensarten, wie sie ja auch für viele Wörterbücher typisch sind:

»Nachträglich im ›Littré‹ nachgeschlagene Wörter:
Branches (Äste): bras (Arm). Keltisch.
›Mutterast‹.
›Sich nicht an Äste klammern‹: (an das, was nicht wesentlich ist).
›Gefräßiger Ast‹: der zuviel Platz einnimmt.
›Hauptäste‹: begründen die Form des Baums und tragen die kleinen Äste und die Fruchtzweige.
Sprichwort: ›Besser sich an den Hauptteil des Baumes zu halten als an die Äste.‹
Branchu (vielästig, gabelig): Eine ›idée branchue‹: bietet zwei Äste, eine Gabelung, zweierlei Alternativen.
›Glauben Sie, daß diese idée branchué, so schrecklich im einen wie im anderen Teil nach der Gabelung...‹ (Saint–Simon)
Halle: 1. öffentlicher Platz, im allgemeinen überdacht;
2. Gebäude, das nach allen Windrichtungen offensteht. Etymologisch: Halla, Tempel (deutsch). Im alten Französisch scheint es da eine Vermengung zwischen ›halle‹ und der lateinischen aula (Hof) gegeben zu haben.
Hallier (Dickicht): eine Verflechtung sehr dichtwüchsiger Büsche (Buffon sagt: einstmals gerodete Orte, jetzt mit einem kleinen Gestrüpp bewachsen. (64). Im mittelalterlichen Latein: hasla: Ast.
Hangar: nach verschiedenen Seiten offener Schuppen, zum Abstellen von Werkzeugen.
Angaros: Bote (ange, aus dem Persischen). Orte, wo die Boten anhielten (oder ›les anges‹, die Engel!)
Fournilles: Reisig, abgeschnittenes Unterholz oder Rutenwerk, welches dazu bestimmt ist, die Backöfen (fours) zu heizen.
Gaulis (Rutenwerk): Unterholzzweigwerk, das frei wuchern konnte. Äste, die die vorwärtsstürmenden Jäger aufhalten, im Waldesdickicht.
Touffe, touffu (Büschel, bebuscht): das Wort steht im Littré.
Cimes (Wipfel): von cuma, Knospe, von κυω, ›geschwellt vom Gezeugten‹ (der junge Trieb).
Peignoir (Kamm–Mantel, Überwurf): Mantel, den man sich überwirft, um sich zu kämmen (›se peigner‹).
Taché (befleckt, fleckig): existiert.
Entaché: kann im guten Sinn verstanden werden; tache kann auch einen Vorzug bedeuten.
Pénombre (Halbschatten, Zwielicht): 1. Terminus der Astronomie; 2. Zwielicht (demi–jour) im allgemeinen.
Bois: 1. das tote, dunkle Kernholz, das sich im Stamm unter dem hellen, lebenden Splintholz befindet; 2. Ansammlung von Bäumen.
Forêt (Forst): von foresta, für die individuelle Kultivierung gesperrtes Terrain (›Bannwald‹).
(65) Futaie (Hochwald): Forst mit großwüchsigen Bäumen (siehe unten). Der Hochwald verhintert das Unterholz. Geläufiger Ausdruck im Altfranzösischen: ›clères futaies‹ (lichte Hochwälder).
Taillis (Unterholz): existiert.
Pin (Kiefer): Keine speziellen Anmerkungen. ›La pigne‹ (der – Zapfen), oder ›pistache‹.
›Pignon‹ (Giebel; Piniennuß).
Conifère (Zapfenbaum, Zapfenträger): trägt Früchte in Form von Kegeln (cônes).
Lisière (Saum, Lichtung): von Liste, Leiste, Einfassung.
Orée (Rand, Lichtung): von ora, Ränder (bords): etwas, das altert, brüchig wird.
Expansion: von expandere.
Vitrage (Fenster).
Vitrail (Kirchenfenster).
Rideaux (Schleier, Vorhänge).
Chicane (Verhau).
Branchie (Kieme): hat doch nicht dieselbe Herkunft wie ›branches‹, Äste.
(66) Rectifier (bestimmen): existiert.
Conidie: Staubschicht oben auf den Flechten, von κόνιζ.
Préau (Hofstatt, Schulhof): trifft den Sachverhalt gar nicht, kommt von pré (Wiese). Wäre richtig für die Lichtung, nicht aber für den Wald.
Thalle (Thallus): Flechtenlager.
Orseille: Eine Flechtenart, benannt nach dem Klassifikator.« (Ponge 1982, 64–66)

Neben solchen Notizen auf der Basis von Exzerpten aus dem Littré finden sich andere Wortklärungen, die der Form nach wie Wörterbucheinträge wirken:

»Ein Wald von 40 Jahren heißt ›Niederhochwald‹ (mit Unterholz).
Ein Wald von 40 bis 60 Jahren heißt ›Mittelwald‹.
Ein Wald von 60 bis 120 Jahren heißt ›Junger Hochwald‹.
Ein Wald von 120 bis 200 Jahren heißt ›Hochwald‹.
Ein Wald von mehr als 200 Jahren heißt ›Klimax–Hochwald‹.« (Ponge 1982, 66)

Auf diese letzte Notiz folgt eine Bemerkung, die andeutet, daß der Wald, um dessen Vokabular es mit den Wörterbuch–Recherchen ging, u.a. ein Sinnbild des entstandenen Textes darstellt:

»Demnach wäre dies kleine Werk kaum ein ›Niederhochwald‹ (mit Unterholz).« (Ponge 1982, 66)

Bekräftigt wird die Idee einer Gleichsetzung des »Notizbuchs« selbst (also des vorliegenden Textes) mit einem Wald durch die folgende, das Buch abschließende Bemerkung:

>»Ende des Kiefernwalds. / Jetzt geht’s hinaus aufs freie Feld.«