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Orpheus und das Wörterbuch – Poetische Sprachreflexion und Sprachexploration bei Francis Ponge
Poetische Erkundungen in und mit Wörterbüchern:
Francis Ponge

Francis Ponge: Das Notizbuch vom Kiefernwald und La Mounine. Deutsch von Peter Handke. Frankf./M. 1982. »Le Carnet du bois de pins« und »La Mounine ou Note après coup sur un ciel de Provence« erschienen zusammen erstmals 1952 in Ponges Band »La Rage de l'expression«. »Le Carnet« war fünf Jahre zuvor schon als Einzeltext erschienen. – In der Übersetzung Handkes liegt von Ponge außerdem vor: Francis Ponge: Kleine Suite des Vivarais. Salzburg/Wien 1988.

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Insgesamt bietet sich der Beschreibungstext in einer ganzen Reihe offenbar gleichberechtigter Varianten dar, und zudem folgt ihm ein kritischer Selbstkommentar unter dem Motto: »Das alles ist nicht das Richtige« (Ponge 1982, 52). Dem Mißtrauen gegenüber Ausdrucksweisen hält ein Vertrauen in die Sprache die Balance; nur wer vom Sprache viel erwartet, kann sie kritisieren. Nicht zufällig spielt Ponge in einem Text von 1930 auf den Orpheus–Mythos an, um die Macht des Wortes zu betonen.

»Cf. den Mythos von Orpheus: das Dichter wäre demnach der welcher die Dinge aufweckt oder auferweckt, sie in Bewegung bringt, sie in Marsch setzt (nicht gegen den Menschen, sondern nach ihm gemäß der Harmonie seines Gesangs). Und zunächst wie macht er das? Indem er sie in ihrem Wesen wahrnimmt und indem er sie benennt.« (Francis Ponge: Schreibpraktiken oder Die stetige Unfertigkeit. Übers. v. Felix Philipp Ingold. München 1988, S. 70.)

In einer Aufzeichnung von 1948 wird die Sprache selbst zum aktiven Subjekt, erscheinen die Wörter wie anthropomorphe Wesen.

»In jedem Augenblick des Ausdrucksbemühens und je nach Maßgabe der schriftlichen Fixierung reagiert die Sprache, schlägt sie ihre eigenen Lösungen vor, weckt sie, erregt sie Ideen, trägt sie zum Werden des Gedichtes bei. / Kein Wort wird verwendet, das nicht sogleich als Person betrachtet würde.« (Ponge 1965, 257)

In einem Text von 1948 charakterisiert Ponge das eigene Werk als ein Projekt, das ein Gegenstück zu den bereits bekannten Wörterbüchern darstellen soll; seine »Deskriptionen« der Gegenstände sollen definitorischen Status besitzen, also eine Art von poetischem Wörterbuch bilden.

»Ich strebe nach Definitions–Deskriptionen, die dem gegenwärtigen Inhalt der Begriffe gerecht werden. […] / Mein Buch muß ersetzen: 1. das enzyklopädische Wörterbuch, 2. das etymologische Wörterbuch, 3. das analogische Wörterbuch (das es nicht gibt), 4. das Reimwörterbuch (das auch die Binnenreime enthält), 5. das Wörterbuch der Synonyme usw. […].“ (Ponge 1965, 269) –
Um jede gelungene »Deskriptions–Definition« würde sich – mit einem prägnanten Bild gesagt – ein Kreis von Vorstellungen bilden, welche insgesamt auf den Gegenstand verwiesen. Es gehe um »Definitionen, die anstatt (beispielsweise bei einer beliebigen Pflanze) auf diese oder jene von vornherein bekannte (statthafte) Klassifikation zu verweisen und insgesamt auf eine als bekannt vorausgesetzte (und im allgemeinen unbekannte) menschliche Wissenschaft, wenn nicht gar auf vollkommene Unwissenheit, so doch zumindest auf einen Kreis genugsam vorbereiteter, gewohnter und elementarer Kenntnisse verweisen und dabei noch nicht dagewesene Entsprechungen herstellen, welche die üblichen Klassifikationen durcheinanderbringen und sich dergestalt als sinnenhafter, verblüffender und annehmlicher darstellen.« (Ponge 1965, 235)

Das Wörterbuch, welches Ponge schaffen möchte, enthielte gleichsam in den Spalten der einen Seite seine Aussagen über die Dinge, in denen der anderen Seite die Dinge selbst. Er wolle, so Ponge im Jahr 1948, den Kiesel »durch eine adäquate, logische (sprachliche Formel ersetzen«. Zum Glück sei »der Littré nicht weit: ich habe das Gefühl, daß sich in ihm die richtigen Worte finden. Und wenn sie nicht drin stehen, muß ich sie eben schaffen.« (Ponge 1965, 247) Aus neuen Definitionen entstünde eine neue welthaltige Sprache. Das Ungenügen an den bestehenden Wörterbüchern ist Antrieb zur Arbeit an diesem utopischen Projekt.

»Vielleicht war es natürlich, daß ich mich […] vorerst der Bestandsaufnahme und Bestimmung der Dinge der Außenwelt zuwandte […]. Und warum, wird man einwenden, noch einmal von neuem anfassen, was bereits mehrmals unternommen worden ist und in den Wörterbüchern und Lexika wohl versichert ruht? – Aber, erwidere ich dann, wie kommt es, daß es in derselben Sprache, zur selben Zeit mehrere Wörterbücher und Lexika gibt und daß ihre Definitionen derselben Gegenstände nicht identisch sind? Vor allem, wie kommt es, daß es sich dabei eher um Wort– als um Sacherklärungen zu handeln scheint? […] Woher rührt diese Verschiedenheit, dieser ungreifbare Spielraum zwischen den Definitionen eines Wortes und der Beschreibung des Gegenstandes, den das Wort bezeichnet? Worauf ist es zurückzuführen, daß uns die Definitionen der Wörterbücher so jämmerlich arm an Konkretem und die Beschreibungen (in Romanen oder Gedichten beispielsweise) so unvollständig (oder im Gegenteil so einseitig und allzu detailliert), so willkürlich, so zufällig vorkommen? Könnte man sich nicht eine Art von (neuen) Schriften vorstellen, die dadurch, daß sie sich zwischen den beiden Gattungen (Definition und Deskription) ansiedeln, von der ersten die Unfehlbarkeit, Unbezweifelbarkeit, deren Bündigkeit, von der zweiten die Achtung vor dem sinnenhaften Aspekt der Dinge übernähmen...« (Ponge 1965, 225. Vgl. 237, über die »uns zur Verfügung stehenden Wörterbücher«; an sich selbst richtet Ponge die Mahnung: »Hier gründlich die Frage des Vokabulars behandeln.«)