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Unendliche Listen: Das Projekt einer Enzyklopädie der Toten
La vie impossible

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  • Christian Boltanski: La vie impossible. Anhaltische Gemäldegalerie Dessau. Verlag der Buchhandlung Walther König. Hg. Norbert Michels. Köln 2001. Die Seiten sind unpaginiert. Die Texte sind dreisprachig (Franz., Dt., Engl.). Das Künstlerbuch wurde zur Ausstellung »La vie impossible de Christian Boltanski« geschaffen, die vom 18.11.2001 bis zum 6.1. 2002 in der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau stattfand. Den Text verfaßte Boltanski 1985. 1990 erschien der Text zuerst in frz. Sprache in der Zeitschrift »fig.4«, 1991 wurde die dt. und die engl. Übers. In der Zs.- »Jahresring 38« publiziert. Die Collagen des Bandes entstanden 2001 für das Künstlerbuch.

Erinnerung und Erinnerungsverlust, Zeitlichkeit und Tod sind dominante Themen in Boltanskis Œuvre. Dies gilt vor allem für seine Photos und Photoinstallationen. Ein zweites benachbartes Kernthema ist der Zusammenhang zwischen Erinnerung, Selbstdarstellung und (inszenierter) Identität. Ein drittes Kernthema ist die Photographie selbst, Boltanskis Photoinstallationen sind metaphotographische Arbeiten. Sie reflektieren (im einleitend skizzierten Sinn) kritisch Grundannahmen über Photographie und Erinnerung, klammern sie ein, beleuchten sie aus verschiedenen Perspektiven, bringen sie in eine Art Schwebezustand zwischen Affirmation und Negation. Die Erwartung, sich mittels photographischer Bilder Vergangenes vergegenwärtigen zu können, wird von diesen Photoarbeiten allerdings konterkariert.

Die Photographie ist bei Boltanski Darstellung eines Vergangenen, das sich nicht revozieren läßt, als Abwesendes durch die Photographie aber gerade vor Augen gestellt wird. Boltanskis Photos haben gespensterhafte Qualitäten; sie konstituieren respektive markieren einen Zwischenraum zwischen Anwesendem und Abwesendem. Dies liegt sowohl an den photographierten Sujets als auch an den visuellen Qualitäten der Photos selbst. Bevorzugtes Gestaltungsmaterial sind Personen- und Familienphotos. Einerseits arrangiert Boltanski diese in einer Weise, die an die konventionelle Funktion von Photographien als Medien des Gedenkens, der erinnernden Rekonstruktion von Vergangenheit erinnert. Andererseits unterläuft er diese Erwartungen dadurch, daß er erstens die Photos anonymer Personen verwendet, mit denen der Betrachter gar keine persönlichen Erinnerungen verbinden kann, die zweitens aber auch keinen Bezug zu spezifischen kollektiven Erinnerungen besitzen – eben, weil man nicht weiß, wer überhaupt dargestellt ist. Einerseits werden die Photos vielfach vergrößert, wie um eine intensive Präsenz der Dargestellten zu erzeugen, und bei der Ausschnittvergrößerung konzentriert sich der Künstler oft auf die besonders suggestive Augenpartie. Andererseits verbindet sich mit der Vergrößerung ein Unscharf-Werden, und auch andere Mittel werden eingesetzt, um den Bildern ihre Schärfe zu nehmen.

Die Bedeutung individuellen und kollektiven Erinnerns wird als solche nicht negiert, aber die Einlösbarkeit des Erinnerungspostulats wird in Frage gestellt. Boltanski verwendet ganze Familienalben, welche symbolisch für solch individuelle und kollektive Erinnerungen stehen – aber ihre Anonymisierung bewirkt, daß dem Betrachter die Unausweichlichkeit des Vergessens bewußt wird. Auf die Grenzen der Erinnerung verweisen insbesondere die Photoinstallationen, deren Materialien explizit die Photos von Toten sind. Für den Betrachter namenlos, sind die Bilder unentzifferbare Etiketten auf einer unzugänglichen Vergangenheit. Deren Sinnbild sind unter anderem die Blechdosen der Installation »Les Suisses morts«.

Boltanskis Credo:

»Wir können nichts vor dem Verfall retten. Genau davon handeln meine ersten Arbeiten: die Dinge zu bewahren im Wissen um ihre Vergänglichkeit.« (Boltanski 2008, 51) – »Man kann noch so viele Archive anlegen, es ist unmöglich, ein Leben festzuhalten.« (65)

»La vie impossible« wurde als Projekt in zweifacher medialer Form realisiert: als Ausstellung wie als Künstlerbuch. Es zitiert die Form einer Sammlung von Erinnerungsstücken und aus der Erinnerung an eine Person formulierten Aussagen. Diese Aussagen sind im Künstlerbuch in heller (unterschiedlich getönter) Schrift auf schwarzen Karton gedruckt. Ihnen gegenübergestellt findet sich jeweils eine abphotographierte Assemblage aus unterschiedlichen Materialien; diese erinnern an Scrapbooks, aber auch an den Anblick ungeordneter Schreibtische oder Schubladen. Wir sehen auf den Bildseiten Assemblagen von Dokumenten verschiedener Art – darunter vielfach Briefe, Ausweispapiere und andere Unterlagen, die sich explizit und erkennbar auf Boltanski beziehen: Korrespondenzen, die sich an ihn richten, Handschriftliches von ihm selbst, Amtliches, Berufliches und Persönliches. Diese Bild-Seiten sind auf semitransparentes Papier gedruckt. Die Photos der Assemblagen sind schon darum unscharf.