U.
Unendliche Listen: Das Projekt einer Enzyklopädie der Toten
La vie impossible

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Zum einen suggeriert das Nebeneinander von Text- und Bildelementen einen wechselseitigen Stützungs- und Kommentierungsbezug, ohne daß diese Erwartung eingelöst würde. Signifikant erscheint die Unschärfe der Bildelemente, die der Ungreifbarkeit dessen entspricht, von dem da aus einer (simulierten) Erinnerungsperspektive die Rede ist. Insbesondere lassen die Bilder keinen Rückschluß auf eine Chronologie ihrer Sujets oder ihres eigenen Entstehens zu: In diesem ›Archiv‹ liegt alles durcheinander. Die Farbe Schwarz als Symbolfarbe der Trauer, des Todes und der Unsichtbarkeit, des Nichtsehens, des Dem-Zugriff-Entgleitens dominiert das Buch. Die Schrift der Aussagen hebt sich von einem übermächtigen schwarzen Grund ab; die Photos sind zwischen jeweils zwei Schwarzen Seiten plaziert. Und ihm Hintergrund der semitransparenten Bildseiten ist das Schwarz immer schon gegenwärtig – so wie das Vergessen im Hintergrund allen Erinnerns. Text- und Bildbestandteile heben sich insofern vom Schwarz ab, wie verbal gefaßte oder bildlich materialisierte Erinnerungen vor dem Hintergrund eines übermächtigen Vergessens.

Die Texte scheinen teilweise beschwören zu wollen, was die Photos darzustellen verweigern. Aber auch sie müssen sich ihr Scheitern eingestehen. Die Rede ist vom Künstler selbst: Anonyme Stimmen sprechen über Boltanski als den Gegenstand ihrer Erinnerungen. Sein Name fällt allerdings – wiederum signifikanterweise – nicht. Auf das (doppelte) Thema der Erinnerung und der Ungreifbarkeit einer Person verweist indirekt schon das Motto, das den Band einleitet: (1) »woran sie sich erinnern« (»ce dont ils se souviennent«/»what people remember about him«). Damit wird die Versuchsanordnung charakterisiert, die dem Buch – als einem fiktionalen Arrangement – zugrunde liegt: Suggeriert wird eine Befragung verschiedenster Zeugen (darunter Freunde, Schulkameraden, eine ehemalige Lehrperson, Galeristen, aber auch eher entfernte Bekannte) zu Christian Boltanski. Die einzelnen Textabschnitte geben dabei jeweils eine einzelne Aussage wieder. Was die »Zeugen« sagen, ist sehr unterschiedlich und wirkt spontan; manche sprechen über Boltanski als Person, manche erwähnen Ereignisse oder Vorfälle, Verhaltensweisen oder Eigenarten. Alle sprechen aus der Perspektive dessen, der sich an jemanden erinnert. Suggeriert wird dabei auch – und dies macht das Arrangement als solches transparent –, der Gegenstand der Erinnerungen (Boltanski) sei tot. Ein »Zeuge« aus der post mortem-Perspektive:

»Ich habe ihn nicht gut gekannt, eine vorbeiziehende Silhouette, ein kleiner, leicht nach vorn gebeugter Mann, jetzt bedauere ich, daß ich nicht mit ihm gesprochen habe, aber ich hätte wahrscheinlich nicht gewußt, was ich ihm hätte sagen sollen.« (91)

So entsteht aus den »Aussagen« fingierter Zeugen das Anti-Porträt des Künstlers als toter Mann. Manche der »Zeugen« scheinen ›Boltanski‹ gemocht zu haben, manche weniger. Manche haben ihm nahegestanden, andere nicht. Mehrdeutig ist der Titel des Projekts (der sich auch auf der dem Motto folgenden Seite findet): »la vie impossible« kann zum einen ausdrücken, der Künstler habe ein ›unmögliches‹ (im Sinne von: schrilles, unkonventionelles) Leben geführt; die Wendung kann andeuten, daß hier ein gegenüber der biographischen Realität alternativer Lebensverlauf simuliert wird, nämlich einer, der in diesem Moment schon beendet ist. Schließlich kann sie auch in dem Sinn verstanden werden, daß das Leben sich ›unmöglich‹ einfangen und repräsentieren läßt, daß es stets jenseits der Repräsentationen verläuft.

Die Aussagen der imaginären Zeugen beziehen sich auf C.B. in verschiedenen Lebensaltern. Sie widersprechen dabei nicht erkennbar solchen Aussagen, die sich über den realen C.B. machen ließen (wenn man von der unterschwellig erzeugten Suggestion seines Ablebens absieht).

»Ich sehe ihn vor mir, er war klein, leicht vorgebeugt, machte stets einen unruhigen Eindruck und hatte ständig eine Pfeife im Mund, ich kann wohl behaupten, daß ich ihn nie ohne seine Pfeife gesehen habe.« (3)

Es liegt nicht nur am Fehlen der ›passenden‹ Bilder, wenn ›Zeugenaussagen‹ nichts Verbindliches über eine Person mitzuteilen haben. Denn diese Person selbst ist, so wie sie sich nach außen darstellt, kein verbindlicher ›Zeuge‹ für das, was ihren Charakter ausmacht. Ein Kommentar meint:

»Er war sehr nett, zu jedem sehr nett, so daß man sich sagte, der da ist zu nett, um ehrlich zu sein« (5).

Die dem zugeordneten Photos sind unscharf und zeigen verschiedene Personen. Manche ›Zeugenaussagen‹ geben Statements von C.B. wieder – signifikanterweise im Sinne negativer Aussagen –, von Aussagen darüber, was C.B. nicht war.