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Unendliche Listen: Das Projekt einer Enzyklopädie der Toten
Danilo Kiš: »Enzyklopädie der Toten«

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  • Danilo Kiš: Enzyklopädie der Toten. Erzählungen. Aus dem Serbokroatischen von Ivan Invanji. München/Wien 1983 (zuerst Zagreb 1983: Enciclopedia Mrthvih). Hier: Enzyklopädie der Toten. (Das ganze Leben). 43-74.

Die Ich-Erzählerin berichtet einleitend von einer Reise nach Schweden, die sie ein Jahr zuvor auf Einladung des Stockholmer Instituts für Theaterwissenschaft machte. Sie habe in Begleitung einer Frau namens Kristina Johannson mehreren Theateraufführungen beigewohnt, darunter insbesondere einer vor Häftlingen gespielten Inszenierung von Becketts »Warten auf Godot« – und noch zehn Tage später habe sie, nachhause zurückgekehrt, »in dieser fernen Welt wie von einem Traum« gelebt. Es handelt sich um eine (Traum-)Reise, in der vor allem Erinnerungen an Tod und Vergänglichkeit, aber auch an die Überwindung des Todes durch an Relikte geknüpfte Erinnerungen eine Rolle spielten. Frau Johannson (deren Vorname Kristina und Nachname Johannson christologische Anspielungen enthält) habe ihr in den zehn Tagen alles mögliche an Interessantem zeigen wollen, darunter ein aus dem Schlamm geborgenes antikes Segelschiff, das die Erzählerin wegen seines guten Erhaltungszustandes rückblickend mit einer »Pharaonenmumie« vergleicht. Zu den besuchten Theaterstücken gehörte auch die »Gespenstersonate«. Danach hatte Frau Johannson ihren Gast in eine Bibliothek gebracht. Obwohl es schon 11 Uhr abends und die Bibliothek geschlossen war, hatte ein Portier die Tür geöffnet (er hatte die ausländische Besucherin an den Wächter des zuvor besuchten Gefängnisses erinnert). Frau Johannson hatte sie dem Wächter anvertraut (den die Erzählerin bei dieser Gelegenheit in Anspielung auf den Höllenhund, der den Hades bewacht, ›Zerberus‹ nennt) und sie ermuntert, sich jetzt allein in aller Ruhe die Bibliothek anzusehen; der Wächter werde sich schon um sie kümmern. Letzterer hatte die Erzählerin dann in der Bibliothek mit ihren gleichförmigen, untereinander durch Gänge verbundenen Räumen allein gelassen, ja offenbar eingeschlossen – bei flackerndem Licht, umgeben von Spinnweben.

Nachdem sie einige wenige Räume durchschritten hat, erkennt die Besucherin das wichtigste Organisationsprinzip der Bibliothek: Die Sequenz der Räume ist alphabetisch geordnet. Insofern ist die Bibliothek analog zu den Bänden einer alphabetischen Enzyklopädie gestaltet. (Über das Motiv der absonderlichen Bibliothek als solches besteht bereits ein Bezug zur Bibliothekserzählung von Borges. Hier bei Kiš gibt es allerdings anders als dort offenbar eine Ordnung.)

»[…] ein jeder Saal enthielt einen Buchstaben der ›Enzyklopädie‹. Dieser war der dritte. Und tatsächlich, in der vierten Abteilung waren alle Bücher mit dem Buchstaben ›D‹ bezeichnet. […] Aufgeregt und außer Atem kam ich endlich zum Buchstaben ›M‹ und öffnete mit einer ganz bestimmten Absicht ein Buch. Ich hatte, wahrscheinlich, weil ich irgendwo schon etwas darüber gelesen hatte, begriffen, daß dies hier die berühmte ›Enzyklopädie der Toten‹ war. Im Augenblick war mir alles klar, noch bevor ich den dicken Band öffnen konnte.« (44f.)

Woher die Erzählerin Kenntnis davon hat, daß es so etwas wie eine »Enyzklopädie der Toten« gibt, ist nicht klar. Dunkel bleibt zunächst auch, von wem der Band handelt, den sie als ersten sucht und aufschlägt, nachdem sie die alphabetische Topographie der Bibliothek durchschaut hat – aber das klärt sich bald auf.

»Als erstes erblickte ich sein Bild. Nur ein einziges, fast mitten auf der Seite zwischen dem zweispaltigen Text. Es war genau dieselbe Photographie, die Sie auf meinem Schreibtisch gesehen haben. Sie ist am zwölften November des Jahres 1936 in Maribor, gleich nach seiner Entlassung aus dem Heer, aufgenommen worden. Unter dem Bild stand sein Name und in Klammern die Jahre 1910-1979.« (44-45)

Der in dem Band und auf dem Photo dargestellte Vater der Erzählerin, an dem sie sehr hing, ist zwei Monate vor ihrer Reise nach Schweden gestorben; ihre Reise soll u.a. dazu dienen, den Schmerz zu lindern. Nun ist sie ganz unerwartet mit der Lebensgeschichte des Vaters konfrontiert – und zwar mit einer Biographie von erschöpfender Vollständigkeit, einer wahrhaft enzyklopädischen Darstellung ihres Vaters und seiner Lebenszusammenhänge. Die Bücher sind staubig, von Spinnweben umhüllt und werden sonst offenbar nie gelesen. Besorgt, der Wächter werde sie bei der Lektüre vorzeitig unterbrechen, vertieft sich die Erzählerin in das Buch über das Leben ihres Vaters.

»Mit den Schultern an die wackeligen Regale aus Holz gelehnt, das Buch im Schoß haltend, las ich, ganz die Zeit vergessend, seine Biographie. Die Bücher waren, wie in den Bibliotheken des Mittelalters, mit dicken Ketten und eisernen Ringen an die Regale gefesselt.« (45)

»Das also, dachte ich im stillen, ist die berühmte Enzyklopädie der Toten! Ich hatte mir vorgestellt, es sei ein uraltes Buch, ein altverfaßtes, hochehrwürdiges Buch, so wie das Tibetanische Totenbuch oder die Kabbala oder das Leben der Heiligen […].« (46)

Die Besucherin entschließt sich, die Nacht in der Bibliothek zu verbringen und sich aus dem Lebensbuch des Vaters Aufzeichnungen zu machen. Auf diesen beruht, der Fiktion zufolge, die Erzählung, die wir lesen, die sich allerdings von vornherein als nur unzulänglicher und partikulärer Auszug der exzerpierten Vorlage ausweist. Mit Mitteilungen über das Leben des Vaters verbinden sich Bemerkungen über den Charakter der »Enzyklopädie der Toten«, von der die Erzählerin früher offenbar bereits gehört hatte, die sie jetzt aber erstmals richtig einzuschätzen und zu beschreiben vermag. Die enzyklopädische Darstellungsweise in dieser Bibliothek ist eine ›totalisierende‹ Darstellungsweise. Über das, was Gegenstand der Beschreibung ist, wird ›alles‹ mitgeteilt, so daß das Beschriebene vor den Augen des Lesers selbst wie gegenwärtig erscheint.

»Das, was hier aufgeschrieben ist, in diesem Heft hier, das sind nur gewöhnliche, enzyklopädische Fakten, bedeutungslos für alle, außer für mich und meine Mutter; Namen, Orte, Jahreszahlen. Und das ist auch alles, was mir in der kurzen Zeit bis zur Morgendämmerung aufzuschreiben gelang. Aber was die Enzyklopädie zu etwas so Einzigartigem auf der Welt macht – nicht nur die Tatsache, daß in ihr lauter Unikate stehen –, ist die Art und Weise, wie die menschlichen Beziehungen, Begegnungen und Landschaften aufgezeichnet sind; die Menge der Einzelheiten, aus denen sich ein menschliches Leben zusammensetzt. Die Angabe (zum Beispiel) über den Geburtsort, pünktlich und vollkommen (›Kraljevcani, Gemeinde Glina, Kreis Sisak, Bezirk Banija‹) ist von einer Menge geographischer und historischer Einzelheiten begleitet, weil dort alles aufgeschrieben ist. Alles. Die Landschaft seiner Heimat ist so lebendig beschrieben, daß ich, die Zeilen und Absätze lesend, überfliegend, das Gefühl hatte, als sei ich dort gewesen, im Herzen dieser Region: der Schnee auf den Gipfeln der fernen Berge, die nackten Bäume, der eingefrorene Fluß, auf dem, wie auf Landschaften von Brueghel, Kinder auf hölzernen Schlittschuhen vorbeigleiten, und unter den Kindern sehe ich auch ihn ganz klar, meinen Vater, obwohl er ja damals noch nicht mein Vater war, sondern nur derjenige, der mein Vater werden würde, derjenige, der mein Vater zu sein hatte.« (47)

Letztere Wendung deutet vage an, daß das Leben des Vaters (und damit das der Menschen überhaupt) vorab determiniert ist, ohne daß die Erzählerin dies weiter ausführt.

Sie erlebt die weiterhin geschilderten Lebensstationen des Vaters beim Lesen so, als sei sie deren Augenzeugin: beispielsweise das Begräbnis der Mutter des Vaters, über die im Totenbuch dann auch weitere detaillierte Informationen gegeben werden – bis zu den Einzelheiten ihrer Beerdigung. In Andeutungen spricht sie dabei auch über diejenigen, die die Enzyklopädie der Toten verfaßt haben (und immer noch verfassen): eine Art Geheimgesellschaft, die sich diesem gigantomanen Projekt verschrieben hat und damit die Funktion übernimmt, die alten religiösen Vorstellungen zufolge die Engel übernommen haben: aufs präziseste Buch zu führen über das Leben der einzelnen Menschen. (Über das Motiv der Geheimgesellschaft von Enzyklopädisten besteht eine Analogie zu Borges’ Tlön-Erzählung.)