D.
Darstellungsformen des Imaginären:
Jorge Luis Borges als Lexikograph
Phantastische Artenlehre. Borges’ »Libro de los seres imaginarios«

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Das Buch der imaginären Wesen steht im Zeichen der Reflexion über die Ordnungen des Wissens. Es ergreift dabei weder Partei für eine Wissensordnung, noch nimmt es eine Meta-Ebene ein, von der aus antagonistische Wissensordnungen distanziert beobachtet würden; vielmehr changiert es zwischen ihnen – worauf auch Dietmar Kamper im Nachwort zur deutschen Ausgabe hingewiesen hat. Borges reflektiere drei Ebenen: »den weitverbreiteten festen Glauben, daß die imaginären Wesen vorkommen; den aufkommenden Zweifel daran, ob so etwas wirklich existiert; und die schließliche Gewißheit, daß es derartige Tiere nicht geben kann. Doch damit ist nur eine fruchtlose Verwechslung der Diskurse beendet. Die mühselige Arbeit von Borges erstattet sie nun zurück, die Tiere, als imaginäre. (...) In einem imaginären Universum ist wieder alles möglich [...].« (Borges 1982, Nachwort Kamper, 176) Die vordergründig erzeugte Suggestion einer verläßlichen Klassifikation erscheint Kamper als ein Trick, ein Ablenkungsmanöver. Borges bediene sich der Tricks, der »Ablenkungen«:

»[D]ie Ansätze zu einer systematischen Klassifikation der phantastischen Zoologie, wie Borges sie gelegentlich unternimmt, führen allesamt in die Irre. Die imaginären Tiere lassen sich zwar weiterhin den vier Elementen (Feuer, Erde, Wasser, Luft), den drei Reichen (Hölle, Erde, Himmel), den Aggregatzuständen des Stoffwechsels (mineralisch, vegetativ, animalisch, human) zuordnen, aber gerade ihr Changieren zwischen den Ordnungen deutet an, daß sie zur Verwirrung der Klassifikationssysteme erfunden worden sind. Man denke an den Karfunkel-Vogel, den niemand je gesehen hat, oder gar an das Einhorn, das seinem Wesen nach unsichtbar ist.« (Borges 1982, Nachwort Kamper, 164)

Mit parawissenschaftlichen oder pseudowissenschaftlichen Mitteln scheinen – wie Kamper meint – bei Borges die wissenschaftlichen Darstellungsverfahren selbst kritisch reflektiert zu werden – insbesondere anläßlich des uneinlösbaren Anspruchs, das Imaginäre kartieren und klassifizieren zu wollen. Kamper deutet das »Libro« als Manifestation eines spezifischen menschlichen Wissens, und zwar eines verheimlichten Wissens. Dieses gilt der Problematik einer Selbstabgrenzung des Menschen gegen das Außermenschliche, das Tierische und Monströse. In »Tag- und Nachtträumen« herrsche »das beredte Schweigen von einem Bruch in der Evolution, der das Verhältnis des Menschen zu den Tieren seit Anbeginn prekär machte« – und Borges beteilige sich an der »Finte«, am »Diskurs derart verschwiegener Beredsamkeit« (Borges 1982, Nachwort Kamper, 164). Kamper suggeriert also – in einer paraliterarischen Weise – das Thema des Buches sei die Unabgrenzbarkeit zwischen Mensch und Tier (die er durch diese Suggestion gleichsam behauptet, in Fortsetzung des Verfahrens, das er selbst Borges zuschreibt.) – Borges’ Fabelwesen reizen, so Kamper, einerseits zum Lachen, andererseits wecken sie die Angst der Menschen, »die allein schon wegen ihrer geheimnisvollen Herkunft nirgends und niemals sicher sein können.« (Borges 1982, Nachwort Kamper, 165) Eine solche Deutung erschließt eine interessante Perspektive auf das »Libro«, auch wenn sie kaum die einzige ist und sein kann – denn ebenso wie das Kompendium als ganzes geläufige Ordnungen des Wissens zitiert, um sie in ihrer Kontingenz bewußt zu machen, stimulieren die einzelnen Objekte der Darstellung zu Interpretationen, die nicht weniger willkürlich und unbefriedigend erscheinen.
Eine Liste von Texten, die Borges im »Libro« häufig als Quellen nennt, stellt die deutsche Ausgabe zusammen: Claudius Aelianus: Über die Eigenart von Tieren; Sir Thomas Browne: Pseudodoxia Epidemica; Herodotos aus Halikarnassos: Historien; Hesiodos aus Askra: Theogonia; Homeros: Ilias, Odyssee; Gaius Plinius Secundus: Historia naturalis; Marco Polo: Il Milione; al-Qazwini: Die Wunder der Schöpfung; Strabon aus Amaseia: Geographika; ferner die Märchen aus Tausendundeiner Nacht (in den Übertragungen von Edward William Lane und von Richard Francis). Das »Libro« steht zudem in Beziehung zu eine Vielzahl anderer Borges-Texte und ihrer Themen. (1) Es stellt eine Modifikation der literarischen Gattung des fiktiven Forschungsberichts dar. (2) Es distanziert sich von Konzepten der Urheberschaft/Autorschaft sowie der Autorität über Bedeutungen wie etwa »Pierre Menard, autor del Quijote«. (3) In diversen Artikeln des »Libro« geht es um Wesen, Figurentypen und Themen, die für Borges insgesamt signifikant sind, so der Artikel über den »Doppelgänger«.

Literaturhinweise: Dietmar Kamper: Burak, Squonk und Zaratan. Zum Stellenwert des Imaginären in der phantastischen Zoologie von Jorge Luis Borges; (= Nachwort) in: »Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen«, S. 163-167. Heinz Schlaffer: Borges. Frankfurt a. M. 1993. Graciela N. Ricci (Hg.): Borges: Identità, plurilinguismo, conoscenza. Milano 2005.