D.
Darstellungsformen des Imaginären:
Jorge Luis Borges als Lexikograph
Phantastische Artenlehre. Borges’ »Libro de los seres imaginarios«

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Die Einebnung der Differenzen (a) zwischen kollektiven und individuellen Imaginationen, (b) zwischen mythischen und fabelhaften Wesen einerseits, bewußt erfundenen literarischen Figuren andererseits, (c) zwischen reinen Imaginationen und imaginativ verfremdetem Sachwissen sowie (d) eigenem und fremdem (zitiertem bzw. paraphrasiertem) Text korrespondiert analogen Entdifferenzierungsstrategien in diversen anderen Borges-Texten. Als weitere Transgression ist die zwischen verschiedenen Kulturkreisen zu nennen (e); Borges wertet neben europäischen und amerikanischen unter anderem orientalische und fernöstliche Quellen aus. (Wie in einem Artenbestimmungsbuch plaziert das »Libro« den »westlichen« und den »östlichen Drachen« nebeneinander.) Dem rekurrenten Borges-Theorem vom Konstruktcharakter und der Kontingenz begrifflicher Ordnungsmuster korrespondiert die Auswahl der Lemmata. Zwar lassen sich alle Wesen als »imaginär« charakterisieren, aber Kriterien ihrer Auswahl werden nicht erkennbar. So stellen die porträtierten Wesen aus Mythos und Legende eine Auswahl dar, die unerklärt bleibt; Analoges gilt für literarische Gestalten. Der Beschreibungsduktus changiert zwischen Objekt- und Metasprache; teils werden die imaginären Wesen direkt beschrieben, teils Aussagen oder Vorstellungen über sie referiert.
Über die Nymphen etwa wird in einer Weise berichtet, die es in der Schwebe läßt, ob sie tatsächlich existiert haben oder nur Gegenstände der literarischen Darstellung sind. Der Sirenen-Artikel beschreibt ironisch die Geschichte sich modifizierender Vorstellungen über die Sirenen als Evolution der Spezies selbst. Der Hinweis auf Quellen erfolgt mit einem ironisch-beglaubigenden Gestus: Strabon habe Parthenopes Grab gesehen, so heißt es etwa. Es folgen mehrere Hinweise auf historisch ›belegte‹ Fälle des Erscheinens von Sirenen; die berühmte Harlemer Meerfrau ist mit dabei. Die ernüchternde Degradierung der Sirenen zu bloßen Meerestieren wird als »brutal« abgewiesen.

»A lo largo de tiempo, las sirenas cambien de forma. Su primer historiador, el rapsoda del duodécimo libro de la Odisea, no nos dice cómo eran; para Ovidio, son aves de plumaje rojizo y cara de virgen; para Apolonio de Rodas, de medio cuerpo arriba son mujeres y, abajo, aves marinas; para el maestro Tirso de Molina (y para la heráldica), »la mitad mujeres, peces la mitad.« No menos discutible es su género; el diccionario clásico de Lemprière entiende que son ninfas, el de Quicherat que son monstruos y el de Grimal que son demonios. Moran en una isla del poniente, cerca de la isla de circe. [...]. El idioma inglés distingue la sirena clásica (siren) de las que tienen cola de pez (mermaids). En la formación de esta última imagen habrían influido por analogía los tritones, divinidades del cortejo de Poseidón. [...]. Sirena: supuesto animal marino, leemos en un diccionario brutal.« Borges 1967, 103f u. 104.
»Im Laufe der Zeit wechseln die Sirenen ihre Gestalt. Der Rhapsode des zwölften Gesanges der Odyssee – der sie zum ersten Mal erwähnt – sagt uns nicht, wie sie waren. Für Ovid sind sie Vögel mit rötlichem Gefieder und dem Gesicht einer Jungfrau, für Apollonius von Rhodos sind sie von der Taille aufwärts Frauen und von der Taille abwärts Seevögel, für den Dichter Tirso de Molina (und für die Heraldik) ›zur Hälfte Frauen, zur Hälfte Fische‹. Nicht weniger umstritten ist ihre Gattung. Das klassische Wörterbuch von Lemprière bezeichnet sie als Nymphen, das von Quicherat als Ungeheuer, und das von Grimal als Dämonen. Sie hausen auf einer Insel im Westen, unweit der Insel der Kirke [...]. Die englische Sprache unterscheidet die klassische Sirene (siren) von denjenigen, die mit einem Fischschwanz ausgestattet sind (mermaids). Bei der Entstehung dieser letzteren Figur mag die Erinnerung an die Tritonen, Gottheiten aus dem Gefolge Poseidons, mitgespielt haben. [...] Sirene: angeblich ein Meerestier, lesen wir in einem brutalen Wörterbuch.« (Borges 1982, 120–122)

Gern beziehen Borges/Guerrero ihre Informationen aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen, deren Informationsgehalt sich der Dichotomie von Wissenschaft und Fiktion entzieht.
Die Artikel des »Libro de los seres imaginarios« sind alphabetisch angeordnet; seine Form erinnert an die eines Bestiariums, aber die Artikel sind nicht einheitlich im Duktus. Manche sind eher deskriptiv, andere weitgehend narrativ gehalten; auch die Verwischung der Differenz zwischen Narration und Deskription erscheint programmatisch. Die alphabetische Anordnung bedingt, daß mit jeder Übersetzung des spanischen Originals (samt der zunächst englischen Zusatzartikel) eine andere Artikelsequenz zustandekommt.
Wie auch in anderen Borges-Texten ist der Paratext selbst integraler Bestandteil der literarischen Experimentalanordnung, mit der es insbesondere um eine Entdifferenzierung zwischen Fiktion und Nichtfiktion, Imaginärem und Erfahrungswissen sowie zwischen persönlicher und kollektiver Produktion geht. – Das Vorwort nimmt auf diese Themen Bezug. Vordergründig bietet es eine Erklärung der mit dem »Libro« verbundenen Intentionen und der daraus resultierenden Struktur. Tatsächlich spricht es – unter Anspielung auf fiktionstheoretische und begriffsnominalistische Diskurse sowie auf idealistische Philosopheme – von alternativen Büchern, deutet die Kontingenz und Erweiterbarkeit des vorliegenden Buchs hinsichtlich seines Inhalts und dessen Präsentation an, unterstreicht die Grenzen der Deutbarkeit der lexikographisch erfaßten Gegenstände sowie die Unvollständigkeit der Quellennachweise.