Die Einebnung der Differenzen (a) zwischen kollektiven und individuellen Imaginationen, (b) zwischen mythischen und fabelhaften Wesen einerseits, bewußt erfundenen literarischen Figuren andererseits, (c) zwischen reinen Imaginationen und imaginativ verfremdetem Sachwissen sowie (d) eigenem und fremdem (zitiertem bzw. paraphrasiertem) Text korrespondiert analogen Entdifferenzierungsstrategien in diversen anderen Borges-Texten. Als weitere Transgression ist die zwischen verschiedenen Kulturkreisen zu nennen (e); Borges wertet neben europäischen und amerikanischen unter anderem orientalische und fernöstliche Quellen aus. (Wie in einem Artenbestimmungsbuch plaziert das »Libro« den »westlichen« und den »östlichen Drachen« nebeneinander.) Dem rekurrenten Borges-Theorem vom Konstruktcharakter und der Kontingenz begrifflicher Ordnungsmuster korrespondiert die Auswahl der Lemmata. Zwar lassen sich alle Wesen als »imaginär« charakterisieren, aber Kriterien ihrer Auswahl werden nicht erkennbar. So stellen die porträtierten Wesen aus Mythos und Legende eine Auswahl dar, die unerklärt bleibt; Analoges gilt für literarische Gestalten. Der Beschreibungsduktus changiert zwischen Objekt- und Metasprache; teils werden die imaginären Wesen direkt beschrieben, teils Aussagen oder Vorstellungen über sie referiert.
Über die Nymphen etwa wird in einer Weise berichtet, die es in der Schwebe läßt, ob sie tatsächlich existiert haben oder nur Gegenstände der literarischen Darstellung sind. Der Sirenen-Artikel beschreibt ironisch die Geschichte sich modifizierender Vorstellungen über die Sirenen als Evolution der Spezies selbst. Der Hinweis auf Quellen erfolgt mit einem ironisch-beglaubigenden Gestus: Strabon habe Parthenopes Grab gesehen, so heißt es etwa. Es folgen mehrere Hinweise auf historisch ›belegte‹ Fälle des Erscheinens von Sirenen; die berühmte Harlemer Meerfrau ist mit dabei. Die ernüchternde Degradierung der Sirenen zu bloßen Meerestieren wird als »brutal« abgewiesen.
Gern beziehen Borges/Guerrero ihre Informationen aus mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen, deren Informationsgehalt sich der Dichotomie von Wissenschaft und Fiktion entzieht.
Die Artikel des »Libro de los seres imaginarios« sind alphabetisch angeordnet; seine Form erinnert an die eines Bestiariums, aber die Artikel sind nicht einheitlich im Duktus. Manche sind eher deskriptiv, andere weitgehend narrativ gehalten; auch die Verwischung der Differenz zwischen Narration und Deskription erscheint programmatisch. Die alphabetische Anordnung bedingt, daß mit jeder Übersetzung des spanischen Originals (samt der zunächst englischen Zusatzartikel) eine andere Artikelsequenz zustandekommt.
Wie auch in anderen Borges-Texten ist der Paratext selbst integraler Bestandteil der literarischen Experimentalanordnung, mit der es insbesondere um eine Entdifferenzierung zwischen Fiktion und Nichtfiktion, Imaginärem und Erfahrungswissen sowie zwischen persönlicher und kollektiver Produktion geht. – Das Vorwort nimmt auf diese Themen Bezug. Vordergründig bietet es eine Erklärung der mit dem »Libro« verbundenen Intentionen und der daraus resultierenden Struktur. Tatsächlich spricht es – unter Anspielung auf fiktionstheoretische und begriffsnominalistische Diskurse sowie auf idealistische Philosopheme – von alternativen Büchern, deutet die Kontingenz und Erweiterbarkeit des vorliegenden Buchs hinsichtlich seines Inhalts und dessen Präsentation an, unterstreicht die Grenzen der Deutbarkeit der lexikographisch erfaßten Gegenstände sowie die Unvollständigkeit der Quellennachweise.