Sten Nadolny: Das Erzählen und die guten Absichten. Die Göttinger und Münchener Poetik-Vorlesungen. München/Zürich 2001
Lexika und Enzyklopädien wurden als Autoritäten betrachtet; Autoritäten (Väter, Großväter) benutzten sie, um Kinder zu belehren. Aber dieses Bündnis mit den Autoritäten (der bürgerlichen Wissensgesellschaft) ist aus Nadolnys Sicht nur eine Seite des Wesens solcher Nachschlagewerke: Auf der anderen Seite haben sie ein Moment des Anarchischen, des Anti-Autoritären. Denn man kann mit ihren Wissensinhalten spielen, man kann die Artikel zum Anlaß des Phantasierens nehmen – und so einen ganz anderen Gebrauch von den Lexika machen als den eines ›ordentlichen‹ Benutzers, der sich selbst ein ›ordentliches‹ Wissen verschafft bzw. dieses erweitert. Warum kann man mit dem lexikographisch aufgearbeiteten Wissen so gut spielen? Weil es sich selbst schon im Zustand des Durcheinanders anbietet: Es ist heterogen, bezieht sich auf die verschiedensten Gegenstände, präsentiert diese statt in sachlicher in alphabetischer Folge, versammelt das Unterschiedlichste und zum Teil Kurioseste zwischen den Buchdeckeln.
Die Phantasie des Lesers können Konversationslexika auch deshalb stimulieren, weil sie mit vielen Details aufwarten, ihre Gegenstände plastisch zu beschreiben suchen und von diesen – oft unter Zuhilfenahme von Abbildungen – ein möglichst lebhaftes Bild im Leser schaffen möchten. Prägend ist dabei – so Nadolny – trotz der oft reichen Illustrierung vor allem das Vertrauen in die Sprache als Medium der Beschreibung und Kommentierung, der Interpretation und Vermittlung von Welt.
Die Bekanntschaft mit der Welt und die mit der Schrift werden dem im Lexikon lesenden Kind gleichzeitig vermittelt; es lernt gleichsam in einem, Texte zu lesen (auch solche in ihm unvertrauter Schrift) und die Welt zu ›lesen‹.