E.
Enzyklopädisch-lexikographische Schreibprojekte
Sten Nadolnys imaginärer Lexikonroman

Sten Nadolny: Das Erzählen und die guten Absichten. Die Göttinger und Münchener Poetik-Vorlesungen. München/Zürich 2001


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»Das Lexikon umspannt die Welt anders als die lateinische Grammatik oder die Sozialkunde, von Erdkunde und Geschichtsunterricht ganz zu schweigen, die von etwas Weitem handeln, aber ein Gefühl der Enge zurücklassen. Der Junge beginnt immer mehr in der alten, aber dafür wirklich weiten Welt des Großen Meyer zu leben.
Gibt es eine dem Fliegen überlegene Art der Fortbewegung? Und ob! Es ist die vom Gneis zum Gnu (›siehe Antilopen‹) und weiter nach Gnesen – in fruchtbarer Gegend, mit zwei Bahnlinien, Zuckerfabrik, Dampfmolkerei, sieben Ziegeleien, Getreidemarkt und Dragonerregiment, ferner, im Jahre 1900, 21 693 Einwohnern, davon 6714 Evangelischen und 1179 Juden.« (Nadolny, 28f.)

Das klingt – und so soll es auch klingen –, als sammle jemand Fundstücke, um sie aufzureihen und an ihrem Leitfaden eine Geschichte zu erzählen. Nadolny erzählt im folgenden Weiteres aus der (vorgestellten) Geschichte eines lexikographisch inspirierten Romanprojekts. Pläne des Heranwachsenden, Schriftsteller zu werden, werden zunächst wieder vergessen, doch dem Vierzigjährigen fällt ein, daß der Titel des Bandes »Glashütte bis Hautflügler« einen guten Romantitel abgeben könnte: ein typischer Titel für einen Lexikonband. Zum (imaginären) Romanstoff heißt es:

»[W]elch eine riesige Spannweite, wieviel Welt tut sich auf zwischen der Uhrenfabrikation der Stadt an der Müglitz (2274 Einwohner im Jahre 1900) und jenen ›Kerbtieren mit beißenden und leckenden Mundteilen, vollkommener Metamorphose und häutigen Flügeln, meist mit Giftstachel ausgestattet, vulgo Wespen, Hornissen, Bienen und Hummeln.‹« (Nadolny, 30)

Es geht aber nicht nur um die Idee, sich von den Stichworten eines alphabetischen Nachschlagewerks zur Imagination einer romaninternen Welt anregen zu lassen. Der gedachte Schriftsteller möchte auch die Struktur des Lexikons übernehmen. Dann entstünde, wenn man in die Artikel Querverweise auf andere Artikel einfügte, ein netzwerkartiger Roman. Dieser wäre nicht zwingend linear zu lesen, sondern – wie ein Lexikon – etwa entlang seiner Verweise. Diese nicht-lineare Lektüre wäre auch nicht definitiv abschließbar, da man von den hinteren Artikeln des Buchs ja wieder auf frühere geleitet würde. Und so entstünde ein Werk, das sich gegen den linearen Ablauf der Zeit auflehnt – wie es auch andere Werke tun, die durch ihre Nichtlinearität charakterisiert sind, etwa die Erzählungen aus 1001 Nächten, mit denen die Erzählerin den Fluß der Zeit manipuliert (und zwar, um dem Tod zu entgehen).

Der geplante Roman des fiktiven Autors soll nach dessen Vorstellung »eine Art Scheherazade-Geschichte werden. Jemand zögert den Tod (oder den Selbstmord) hinaus, indem er den Querverweisen des Lexikons folgt und niemals damit fertig wird.« (Nadolny: Das Erzählen und die guten Absichten, 65) Das nichtlineare lexikographische Artikel-Netzwerk erscheint demnach als Auflehnung gegen Zeit und Tod: Nadolnys imaginärer Lexikonroman erscheint als Ausdruck einer poetologischen Leitidee: Literatur stellt nicht nur eigene Welten dar, sie hat auch ihre eigene Zeitlichkeit.