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Listen
Die Liste ist ein Modell bzw. Konzept, das Umberto Eco zum Thema einer rezenten Veröffentlichung gemacht hat. Sie kann als Vorform der Enzyklopädie gelten.

Umberto Eco: »Die unendliche Liste«, München 2009 (Orig.: »Vertigine della lista«, Mailand 2009)


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Eco unterscheidet grob zwischen zwei Typen von Listen, die zwei verschiedenen Funktionen entsprechen (und letztlich kann es von der einer Liste zugeschriebenen Funktion abhängen, wo man sie einreiht):

  • Die einen haben praktische Zwecke (wie Einkaufszettel, Inventarien, Verzeichnisse von Besitztümern, Namensnennungen im Telefonbuch etc.)
  • Die anderen – Eco nennt sie ›poetische Listen‹ – werden aus einer reflexiven Haltung des Schreibenden zu seiner Arbeit heraus verfaßt: Sie drücken den Anspruch aus, eine unermeßliche Vielfalt von Dingen darzustellen – und signalisieren meist zugleich das Scheitern dieses Anspruchs. Die Liste mit ›vielen‹ Dingen (die Aufreihung vieler Namen, die Nennung vieler Objekte etc.) steht stellvertretend für die Darstellung ›unermeßlich‹ vieler Dinge oder Wesen, aber eben nur stellvertretend.

Ecos Erörterungen zur ›listenartigen‹ aufreihenden, aufzählenden, katalogartigen Darstellung setzen diese also insbesondere in Beziehung zu dem Projekt, etwas Unermeßliches, in seiner Ganzheit Unüberschaubares darzustellen. (Extremfall des Unermeßlichen ist das Unendliche.) Entsprechend wichtig werden Listen in Kulturen respektive bei Autoren, die nicht mehr hoffen können, die Welt als Ganzes zu überblicken.
Auch Dichter, die ihre Welt überschauten, haben Listen geschrieben; Listen stehen hier für die Totalität einer grundsätzlich überschaubaren Welt, die in verkleinertem Maßstab durch Repräsentanten dargestellt wird (1).
Ihnen gegenüber stehen Autoren (nicht nur literarische, auch wissenschaftliche), die durch Listen versuchen, einen Eindruck von der Unermeßlichkeit der Welt zu geben (2).

»Homer konnte eine geschlossene Form schaffen, weil er eine klare Vorstellung davon hatte, wie die agrarische und die kriegerische Kultur seiner Zeit beschaffen war. Die Welt, von der er sprach, war ihm nicht unbekannt, er kannte ihre Gesetze, [...] und deshalb konnte er sie in eine Form bringen. [1] Es gibt jedoch eine andere Art der künstlerischen Darstellung, dann nämlich, wenn man die Grenzen dessen, was man darstellen will, nicht kennt, wenn man nicht weiß, wie viele Dinge es sind, von denen man spricht, und man eine, wo nicht unendliche, so doch astronomisch hohe Zahl annehmen muß. [2] Oder wenn man von etwas sprechen will, von dem man keine Wesensbestimmung geben kann; daher zählt man, um von ihnen sprechen zu können, um es begreiflich, irgendwie anschaulich zu machen, seine zufälligen Eigenschaften auf – [3] und die akzidentiellen, also die nebensächlichen, zufälligen Eigenschaften einer Sache gelten [...] von den Griechen bis zum heutigen Tag als unendlich.« (Eco 15)

Mit letzterer Bemerkung (3) geht es (neben der Unermeßlichkeit der darzustellenden Dinge, der Unübersehbarkeit der Welt) schon um ein weiteres Darstellungsproblem: Wenn – so Ecos These – ein Autor nicht weiß, wie das, was er darstellen will (oder soll) seinem Wesen nach beschaffen ist, so legt er Listen von Merkmalen an. (Mit solchen Listen werden die zu beschreibenden Dinge gleichsam umkreist).