N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gottlieb Wilhelm Rabener: »Versuch eines deutschen Wörterbuchs«

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Im »Wörterbuch« insgesamt geht es um Verfahren, mithilfe von Wörtern Scheinwirk­lichkeiten aufzubauen, welche die tatsächlichen Mißstände und Unzulänglichkeiten in der Sphäre des sozialen Miteinanders zu kaschie­ren helfen. Die »echten« Signifikate werden vorgeblich ausgeklammert, für in­existent, »verloren« (R 39) oder irrelevant erklärt, um die Verbindung der Wör­ter zu falschen Begriffen und Tatsachen zu befestigen. Der Gedanke, daß die Wörter nur lockere Etiketten für Be­griffe seien, bildet das Fundament für Rabeners spielerischen Etikettenschwindel. (Die »Wörterbuch«-Satire, deren einzelne Artikel einem ständig rekapitulierten Grundmuster folgen, bezieht ihren Effekt aus einem ironischen Understatement. Auf eine einfache For­mel gebracht: Es gilt immer das gerade Gegenteil von dem, was gesagt wird. Dies gilt auch für die scheinbar gültige Prämisse, man könne über Sprachzeichen reden, ohne Inhalte und Bedeutungen (kritisch) zu reflektieren.)

Rabeners Ironie ist recht handfest, um nicht zu sagen dick aufgetragen; die Strategie der einfachen Umkehrung des Gemeinten wird konsequent bis zur Eintönigkeit verfolgt. Gleichwohl ist die ironisch gemeinte Abkopplung der be­handelten Wörter von ihren ursprünglichen Signifikaten und ihre ebenso ironi­sche Zuordnung zu anderen von einigen Zeitgenossen Rabeners irrtümlicher­weise ernstgenommen worden. Der Artikel Eidschwur, in dem ja mißbräuchli­che und oberflächliche Eide satirisch kritisiert werden, erschien einer Reihe von zeitgenössischen Lesern als Blasphemie gegen die Institution des Eides und ge­gen die Religion. Rabener wurde bei der Geistlichkeit angezeigt und in einen Prozeß verwickelt, sein Buch gerichtlich eingezogen und verurteilt. So kann sich das Spiel mit Wörtern an dem rächen, der diese wie verfügbare Etiketten traktiert.

Bei den Lesern, die Rabeners Ironie nicht verstanden und den Eidschwur-Artikel beim Wort nahmen, handelte es sich um einige vogtländische Bauern, die das ihrem Pfarrer von dem gottlosen Buch erzählten, woraufhin auch die Geistlichkeit auf Rabeners Ironie hereinfiel. Die Satire wurde auf eine für den Verfasser peinliche Weise populär: »Gerichtsverwalter«, »Richter und Schöppen, Müller, Bauern und Einnehmer« befassen sich damit, das »böse Buch« wird arretiert, Zeugen werden vernommen, »um das Ansehen der Eide zu vertheidi­gen« und das Buch schließlich verdammt. »Man nennt meine Schrift: Verwegenste Sätze von Geringschätzung der Eidschwüre; gottlose, gewissenlose Lehren; ein ärgerli­ches Wesen; verdächtige und spöttische Ausdrückungen von Eidschwüren; ausge­streute Lehren vom Mißbrauche des Meineides; öffentliches Aergerniß; Verführung unschuldiger Herzen; skeptische Sätze; Sätze, welche zu nichts geschickter sind, als ein zügelloses Leben zu aller heimlichen Bosheit zu befördern, u.s.w.«. Rabener: Von dem Mißbrauch der Satire, R I 78-80. – Vgl. Biergann: Rabeners Auffassung, S. 69. Ferner: Julius Mühlhaus. Gottlieb Wilhelm Rabener. Ein Beitrag zur Literatur- und Kulturge­schichte des 18. Jahrhunderts. Diss. Marburg 1908, S. 55.