N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gottlieb Wilhelm Rabener: »Versuch eines deutschen Wörterbuchs«

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Rabeners »Wörterbuch«-Artikel sprechen ebenfalls von der Re­lation zwischen Zeichen und dem, was diese »vertreten«. Ironischerweise aber, und dies ist die verbindende Grundidee, gleichsam das Strickmuster aller Arti­kel, spendet Rabener gerade den Störungen in jener Dreierbeziehung von Wort, Bewußtseinsinhalt und Gegenstand seinen (freilich ironischen) Beifall. Mehrfach konstatiert er, daß sich manche Ausdrücke bloß auf etwas zu beziehen scheinen, das es aber tatsächlich nicht gibt; anders als die Kritiker »leerer Worte«, erklärt er dies dann für völlig in Ordnung.

Einige Beispiele:

Die Artikel Pflicht und Verstand (R II 27f., R II 29ff.) wollen den Leser ironisch darüber belehren, daß die entspre­chenden Ausdrücke leere Wörter sind, denen im Bewußtsein der Wort­benutzer kein Begriff und in der äußeren Welt kein Sachverhalt korrespondiert. Als bloße Formeln beliebig einsetzbar, bezeichnen Pflicht und Verstand dann allerdings doch auf mancherlei – allerdings in irreführender Weise. Pflicht ist für viele Sprachbenutzer ein beschönigender Ausdruck zur Entschuldigung eigennütziger Motive, oft ein Vorwand für egoistisches Gewinnstreben. Von Verstand sprechen viele, wenn sie Reichtum meinen; denn je mehr Geld je­mand hat, umso verständiger erscheint er seinen Mitmenschen. Wahre Pflicht, wirklicher Verstand – so wird zwischen den Zeilen lesbar – sind für die Sprachbenutzer oft unbekannte Größen.
Das Wort Compliment gehört, wie es einleitend bereits im ersten Artikel heißt, »unter die nichtsbedeutenden Wörter« (R II 5). Complimente sind eigentlich Bezeugungen des Respekts vor Personen, die diesen verdient haben. Im Alltagssprachgebrauch nun bezeichnet das Wort eine physische Bewegung ohne wahren Sinn: Wer ein Compliment macht, macht eine Verbeugung – egal vor wem. Satirische Absicht des Artikels Compliment ist der Nachweis, daß Complimente niemals Ausdruck der Achtung sind und folglich auch nicht dem Verdienstvollen entgegengebracht werden; sie gelten vielmehr dem Reichen und Mächtigen und sind inhaltsleere Konvention.
Analoges gilt für den Ausdruck Eidschwur (R II 7ff.). Das durch ihn normalerweise bezeichnete Signifikat ist – dem Satiriker zufolge – nicht eine moralisch gültige Verpflichtung, sondern das Wort benennt nur eine äußerliche, zu nichts verpflichtende Hand­lung:

»eine gewisse Ceremonie, bei der man aufrecht steht, die Finger in die Höhe reckt, den Hut unter dem Arme hält und etwas verspricht oder betheuert, das man nicht länger hält, als bis man den Hut wieder aufsetzt« (R II 7).

Um der Vereinheitlichung willen plä­diert der Satiriker dafür, Namen und Begriff des Eids für solche Akte zu reservieren, bei denen es nicht um Wahrheit und Pflicht geht, sondern darum, »eine Lüge recht wahrscheinlich zu machen« (R II 7). Wo Eide nichts bedeuten, bedeuten auch Eidbrüche nichts; die entsprechende Benennung »will nicht viel sagen«, wird als »Redensart« auch »nicht sehr gebraucht« (R II 8). Wieder wird ein »inhaltsleerer« Wortgebrauch vorgeblich affirmiert. Die satirische Absicht liegt auf der Hand: Es geht Rabener nicht um das Wort Eidschwur, sondern um Eide und deren oft verkannte Verbindlichkeit. Eide werden ironisch verharmlost – wie auch Flüche (R II 8); ironisch schlägt sich der Satiriker auf die Seite derjenigen, die die Sprache (und vor allem performative Sprechakte) nicht so ernst nehmen. Der nächste Artikel dient dem ironischen Nachweis, daß das Wort Ewig eine andere Bedeutung besitzt als die scheinbar mit ihm zu verknüpfende – oder vielmehr einen großen, unbestimmten Bedeutungsspielraum, da es »ein Jeder nach seinem Gutbefinden und so braucht, wie er es für seine Umstände am zu­träglichsten hält« (R II 9). Etikett für alles mögliche, ist Ewig also nicht das Zei­chen für etwas Zeitlos-Dauerhaftes; die Ausdrücke »ewige Liebe«, »ewige Treue«, »ewige Freundschaft«, »ewiger Friede«, »ewiger Ruhm« beziehen sich auf Sachverhalte und Empfindungen von durchaus kurzer Dauer. Etwas vorsichtiger verfährt Rabener mit den Stichwörtern Ehr­würdig und Gelehrt (R II 12ff., R II 14ff.). Er läßt durchblicken, daß es durch­aus Personen gibt, welche tatsächlich ehrwürdig oder gelehrt sind, daß diese Begriffe also nicht als bloße Leerformeln kursieren. (Möchte er doch keinen Anstoß bei denen erregen, die am Ende mit Recht Anspruch darauf erheben könnten, ehrwürdig oder gelehrt zu sein.)