N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Georg Christoph Lichtenbergs Beitrag zum »Wörterbuch«

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Eine zunächst akzeptable Definition leitet den Artikel Instinkt ein.

»Instinkt ist ein innerlicher Trieb, etwas zu tun oder zu lassen, den die Natur in ein Geschöpf gelegt hat.« (L III 505)

Weder das Signifikat des Begriffs Instinkt (also die Naturtriebe, ihre Funk­tionen und Erscheinungsformen), noch die Verwendung dieses Begriffs durch die Sprachbenutzer wird zum Anlaß der Satire genommen. Sämtliche sich anschließenden Reflexionen über den Instinkt sind durchaus ernstgemeint; er unterscheidet zwei Grundinstinkte, nämlich den Trieb zur Selbsterhaltung und den Fortpflanzungs- oder Ge­schlechtstrieb und charakterisiert sie als Bindeglieder zwischen Tier- und Menschenwelt. (Instinkte selbst könnten übrigens aus Lichtenbergs Sicht auch gar nicht zum Objekt der Satire werden, denn als Natur-Triebe gehören sie ja gar nicht der kulturellen und sozialen Welt an, in welcher allein es moralische Maßstäbe und Verstöße gegen die Moral gibt.) Wer sich nach seinen Instinkten richtet, handelt zwar nicht notwendig »gut« im Sinne gesellschaftlicher Wertmaßstäbe, aber auch nicht notwendig schlecht. Und wirk­lich böse kann nur der sein, der die Natur mißachtet.

»Ob es gut sei, daß der Mensch bloß nach Instinkten lebe, kann nur beim absoluten oder hy­pothetischen Naturstande in Frage kommen. nach dem absoluten Recht der Natur gibt es vielleicht keine sicherern Richtschnuren, als Triebe der Natur, denn wer nach diesen ver­fährt, handelt wohl der Natur nicht entgegen (...). Ein Mensch der bloß nach Instinkten in ei­nem kultivierten Staate handelt, kann Ärgernisse geben, kann die Ordnung im Staate beun­ruhigen; wenn er es tut, so tut er es aber bloß in Rücksicht auf seine Person; im ganzen hat der Staat nichts von ihm zu befürchten; ein Bösewicht par principe wird er nie; das kann nur der werden, der gegen die Natur und ihre Vorschriften handelt.« (L III 507)

Satirisch wird Lichtenberg konsequenterweise erst in dem Moment, da er den Niedergang der arterhaltenden und gesunden Instinkte im Laufe der Mensch­heitsgeschichte erörtert, also die Folgen einer Überlagerung von Natur durch die Kultur. Diese Folgen bestehen für ihn, kurz gesagt, darin, daß die positiven Effekte des Selbsterhaltungs- wie des Fortpflanzungstriebs sich in neuerer Zeit nicht mehr im gleichen Maße ergeben, wie in in­stinktnäheren Zeiten. Zwar gibt es noch einen Selbsterhaltungstrieb, aber die Menschen leben nicht mehr so lange und nicht mehr so gesund und kräftig wie ihre Vorfahren; zwar gibt es noch einen Fortpflanzungstrieb (auch geschmückte »Dämchen« sind »Tierchen«, L III 505), aber die Zeugungskraft der Neueren hat nachgelassen und bedarf der Beihilfe durch mancherlei Künste. Die Direktheit, mit der das Thema Geschlechtstrieb und Zeugungsvermögen hier zur Sprache kommt, mag einer der Gründe dafür sein, daß dieser Text wohl unveröffentlicht blieb.