N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Georg Christoph Lichtenbergs Beitrag zum »Wörterbuch«

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Rede-Weisen erscheinen als Instrument und Spiegel moralischer Defizite. (Nicht die ›langue‹ sondern die ›parole‹ ist Ziel der Satire, um es mit einer Differenzierung F. de Saussures zu sagen.) Deutlich wird die Macht, welche man mittels der Wörter über andere ausüben kann, so eben die Tauglichkeit einer und sei es noch so unscheinbaren Konjunktion zum effizienten Instrument des Ruf-Mords. Sprache ist prägendes Medium des sozialen Lebens; sie beschreibt soziale Realitäten nicht bloß, sondern schafft sie auch – sie ist nicht »nur« Zeichen, sondern selbst, etwa in Gestalt einer folgenreichen Verleumdung, ein Stück (oft schmerzhafter) Lebenswirklichkeit. Daß es eine kleine Konjunktion wie Aber ist, an welcher die – in diesem Fall womöglich manchmal mörderische – Wirkung der Sprache de­monstriert wird, stimmt gut zu Lichtenbergs unablässiger Aufmerksamkeit auf das Kleine, Unscheinbare und dabei doch Folgenreiche: Der Teufel steckt, nicht nur hier, im Detail, und halbe Sätze können oft mehr an- oder ausrichten als lange Predigten.

Der Artikel Afterreden (L III 503f.) behandelt das gleiche Thema, aber nicht in satirischer Form. An die Stelle der Ironie tritt der Klartext, die Brandmar­kung eines moralischen Übelstandes; und nur im zweiten Teil, der an die verlo­rene Redlichkeit und Geradlinigkeit der alten Deutschen erinnert, wird die Mo­ralkritik gelegentlich durch Anklänge grimmigen Humors aufgelockert. Zu ei­nem imaginären Wörterbuch trägt dieser Artikel trotz seiner thematischen Nähe zu Aber auf ganz andere Weise bei: Ging es dort um die Erläuterung bestimm­ter Formen des Sprachgebrauchs, also um Beschreibung und Deutung eines Stückes Sprachpraxis, so wird nun jener Terminus (im Wörterbuch-Stil und unter Zuhilfenahme eines Synonyms) definiert, mit dem jene Sprachpraxis an­gemessen zu benennen wäre.

»Afterreden, oder, in einem vornehmern Ausdruck, Medisieren ist eine moralische Modekrank­heit dieses Jahrhunderts der verfeinerten Sitten; eine sittliche Pest kleiner Seelen [...]; das unge­selligste sittliche Übel, das es vielleicht gibt, aber ohne das manche große Gesellschaft von privi­legierten oder nicht privilegierten, betitelten oder unbetitelten Müßiggängern in tötender langer Weile dahinsterben würde. Dies Übel zu verhindern, muß dieser seine Frau, jener seine Töchter, der dritte seine eigne Ehre herleihen; und dadurch, daß jene mit der Zunge todgeschlagen wer­den, rettet sich jene.« (L III 503f.)

Die Praxis sprachlicher Kommunikation ist sowohl Spiegel als auch konstitutives Moment gesell­schaftlicher Praxis überhaupt: Dies belegt sowohl das Beispiel des Totschlägers mit Worten als auch das positive (wenngleich stark stilisierte) Gegenbeispiel des aufrechten und rechtschaffenen alten Deutschen. (Dessen Sprachpraxis wird gegen die der Verleumder ausgespielt: Tapfer und ehrlich, war der »[einstige] Teutsche bloß durch Waffen, durch die Zunge nie, gefährlich. Fürchterlich war sie zwar, wenn er drohte, verräterisch niemals.« Später, »im 18ten Jahrhundert konnte der Teut­sche schon so geläufig mit der Zunge fechten, als zu Augustuli Zeiten der Merowinger mit dem Degen.« L III 504)