N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Georg Christoph Lichtenbergs Beitrag zum »Wörterbuch«

 1 | 2 | 3 | 4 

Obwohl dem Rahmenthema und dem Zweck seiner Erörterung nach dem »Wör­terbuch« Rabeners noch ferner stehend als seine beiden Brüder, ist der In­stinkt-Artikel mit jenen früheren Artikeln an einer Stelle doch verwandt: Ein Abschnitt behandelt die irreführende Um-Etikettierung eigennütziger Motive und kulturell bedingter Laster zu »Trieben«, also zu natürlichen (und damit legi­timierten) Impulsen. Die beiden Naturinstinkte der Fortpflanzung und der Selbsterhaltung tragen ihre Namen zu Recht, die Laster und Gebrechen hinge­gen werden von einer moralisch depravierten Gesellschaft zu Unrecht als natür­liche »Triebe« bezeichnet. Hinter dem willkürlichen Spiel mit Etiketten verbirgt sich (wie bei Rabener) das moralische Defizit, ja dieses Spiel selbst ist moralisch anrüchig, da es Täuschungen und Selbsttäuschungen zum Zweck hat.

»[...] der Mensch [...] schafft sich noch zu jeder besondern Handlung einen besondern Trieb an, dem er nicht widerstehen kann, und den er oft zur Entschuldigung einer nicht zu entschuldigen­den tat anführt. Daher kömmts, daß jede Leidenschaft ihren eigenen Trieb hat, daß es einen Trunk- Spiel- Rauf- Fenstereinschmeißungs- und Mause-Trieb gibt. Aber auch bei guten und lo­benswürdigen Dingen läßt sich so ein Trieb, oft mit verändertem Namen, anbringen. So nennet es z.E. Seine Hochwürden einen innern Beruf, wenn Sie einen Trieb hat, eine Pfarre von 400 Talern mit einer von 800 zu vertauschen [...].« (L III 506)

Daß eine Gesellschaft es nötig hat, zur Rechtfertigung ihrer Unarten imaginäre Triebe zu ersinnen, deren Namen als verfügbare Spielsteine gehandelt werden, zeigt ihre Entfernung von einer authentischen Natürlichkeit – und ihre Neigung, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. ›Instinkte‹ werden zum fingierten Vorwand für allerlei Unarten und Laster.

Und so geht es doch auch hier wieder um die Benennung und (beliebige) Umbenennung von Dingen als ein in der Gesellschaft praktiziertes Verfahren der verfälschenden und schönfärbenden Sprachverwendung. Wo einst die Instinkte herrschten, herr­schen heute die Wörter – und die, welche sich dieser trickreich zu bedienen wis­sen.