W.
Wirkliche und Mögliche Welten
Grenzverwischungen

Lexikographische Darstellungen können zur Verwischung der Grenze zwischen wirklichen und imaginären Objekten beitragen. Imaginäres läßt sich durch die Versammlung unter Objekte wissenschaftlicher Beschreibungen in die Bestände der wissenschaftlich kartierten Welt ›einschmuggeln‹. Ein sprichwörtlich gewordenes Beispiel ist das Morgensternsche Nasobem, das vorübergehend tatsächlich Einzug in den Brehm gehalten haben soll.

»Auf seinen Nasen schreitet
einher das Nasobem.
von seinem Kind begleitet.
es steht noch nicht im Brehm.

Es steht noch nicht im Meyer.
Und auch im Brockhaus nicht.
Es trat aus meiner Leyer
zum ersten Mal ans Licht.

Auf seinen Nasen schreitet
(wie schon gesagt) seitdem,
von seinem Kind begleitet,
einher das Nasobem.«

Christian Morgenstern: Das Nasobem. In: Alle Galgenlieder, Frankf./M. 1972, 79.

Ein rezenteres Beispiel dafür, daß Fiktionen sich Eingang in Fachlexika verschaffen, ist der »Orthodidakt«, eine Spezies des Wissenschaftlers, die sich in der von Jürgen Mittelstraß in Verbindung mit Gereon Wolters herausgegebenen »Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie« (4 Bde., Mannheim 1980ff.) beschrieben findet.

»Orthodidaktik (von griech /orthos/, richtig, und /didaskein/ lehren, belehren), Teildisziplin der sprachkritischen Anthropologie und Pädagogik. Sie behandelt die selbständige (nur durch die jedem Menschen als ­Orthos logos zugeschriebene ­Vernunft mögliche) Aneignung einer recht verstandenen logischen ­Propädeutik und des orthosprachlichen Aufbaus (­Orthosprache) der konstruktiven Wissenschaftstheorie (­Wissenschaftstheorie, konstruktive). Der Orthodidakt folgt konstruktionsgemäß in der Regel allein dem Zwang des geschriebenen Argumentes, sei dieses nun das bessere oder nicht. Orthodidaktische Lernprozesse schließen daher die dialogische Anwesenheit des so genannten ›Logo‹- oder ›Orthopäden‹ (­argumentum in distans) aus. Erste orthodidaktische Experimente finden sich bereits im logopädischen Teil der javanischen Grammatik von J.J. Feinhals.
Literatur: J.J. Feinhals, Javanische Grammatik auf Grund eigener Kenntniss, Amsterdam 1729; A[lbert] Hansen, Ortho als Verkehrssprache I (Grundkurs in zwei Teilen), Herzogenaurach 11. [Aufl.] 1996 (Z. f. wiss. Pluralismus, Beih. XXVII); S[am] Manticks u.a., Scientific Ortho, Boston o.J (1984), H.J. Schneider, Der Rufer in der Wüste, in: G. Wolters (ed.), Jetztzeit und Verdunkelung. Festschrift für Jürgen Mittelstraß zum vierzigsten Geburtstag, Konstanz 1976, 11. F.K.« (Bd. 2, H-O, 1099)

Der Artikel sprengt das Gefüge der seriösen Informationen der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie. Er korrespondiert über seine erste Literaturangabe mit einem weiteren Fake (und es ist zumindest theoretisch nicht auszuschließen, daß er noch weitere Korrespondenten hat oder bekommen könnte, die ein Netz – ein Spaltpilz-Mycel) durch das ganze Gebäude der Begriffe ziehen könnten):

»Feinhals, Johann Jakob, *Osterode 1. April 1702, + Wolfenbüttel 14. Juni 1769, dt. Theologe, Botaniker und Philosoph. Ab 1720 Studium der Theologie und Philosophie an den Universitäten Dorpat, Helmstedt und Wittenberg, 1723 Ordination, anschließend Tätigkeit als Missionar in Java, wo F. an Malaria erkrankte, 1728 Rückkehr nach Deutschland und Lehrtätigkeit als Prof. der Naturphilosophie an der Universität Köln. Ab 1730 Veröffentlichungen seiner in Java begonnenen botanischen Studien, ab 1753 Subbibliothekar an der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, wo er besonders den botanischen Bestand betreute, starb an einem Malariaanfall. F. gilt als Hauptvertreter der Harzer Mission, de es sich zur Aufgabe setzte, ›den Wilden Gott zu bringen‹ (Über die Möglichkeit der Mission I, Goslar (636) 1729, 14). Seine ab 1730 festzustellende Abkehr von der Theologie zeigt sich darin, daß naturphilosophische Schriften in den Vordergrund treten (Von der Seele seltsamer Pflantzen und Thiere, I-IV, Herborn 1741-1753; Traktat über das Verhältniss von Vulkanausbrüchen und Mondfinsterniss, Amsterdam 1755; 2. Aufl. 1757 [repr. Peine 1974]. Auf einer Reise nach Italien kam F. 1744 nach Konstanz, wo er in eine Wirtshausschlägerei verwickelt und von den damaligen französischen Besatzungstruppen als Spion verhaftet wurde. Seine schlechten Erinnerungen an diesen ›impertinent-provocatorischen Vorfall‹ (Briefe II, 114) führten dazu, daß er dem Konstanzer Stadtsyndikus J. Speth davon abriet, ›bey diesen Barbaren‹, Briefe II 115f.) eine Universität zu gründen. Das Original dieses Briefes ist bei den Unruhen der 90er Jahre im Konstanzer Stadtarchiv untergegangen. – Nach F. ist die Natur beseelt von bösen kosmischen Kobolden, die in ihrer Beschreibung an die Leibnizschen ­Monaden erinnern. Aufgabe des Menschen sei es, durch die Entwicklung einer persönlichen Gutmütigkeit die Macht der bösen Kobolde auszugleichen. Der Verfasserschaft von ›Principia rerum naturalium sive novum tentamen phaenomena mundi elementaris philosophice explicandi‹ (Zug 1735, 1738 im Index librorum prohibitorum), die F. von manchen Interpreten unterstellt wird, scheint zweifelhaft, sicher ist jedoch, daß F. nicht Autor von ›Corpus scriptorum eroticorum graecorum I: Parthenii erotica‹ (Fulda 1755) ist.
Weitere Werke: Javanische Grammatik auf Grund eigener Kenntniss, Amsterdam 1729; Die Orchideen des Bösen, oder über die All-Gegenwart des Teufels, Köln 1731; Gemeinfaßliches System exotischer Pflanzen, I-III, Köln 1742; Briefe, I-III, ed. F. v. Grummelsberg, Magdeburg 1914-1918.
Literatur: B. Aschenkuchen, Die Harzer Mission, Göttingen 1928, 14-33; F. v. Grummelsberg, J.J.F. als Botaniker und Philosoph, Diss. Helmstedt 1903; L. Lafarce, F., un représentant de son temps, Brüssel 1948 (dt. F., ein Vertreter seiner Zeit, Detmold 1951). P.B.« (Bd. 1, 635f.)

Man sieht: die Grenze zwischen fiktionaler und sachbezogener Darstellung ist durchlässig, unabhängig davon welche konkrete (etwa satirische oder parodistische oder auch selbstparodistische) Intention sich mit dem Beispiel im einzelnen verbindet.