Eine Reihe von literarischen Kompendien setzt auf die Komik von Verfremdungseffekten, – sei es, daß sie die jeweiligen Gegenstände in der satirisch verfremdeten Form eines pseudowissenschaftlichen Nachschlagewerks präsentiert werden, sei es daß sie vertraute Darstellungsverfahren als solche parodieren. Überhaupt ist eine erhebliche Zahl der literarisch-ästhetischen Experimente mit wissenschaftlichen Darstellungsformen parodistisch – wenn auch keineswegs alle. Die Satire kann auf den Gegenstand der Darstellung zielen, etwa wenn in Form eines Lexikonbeitrags eine Person als seltsame Tierart porträtiert wird – aber auch auf die Darstellungsweise als solche, etwa im Sinn der Parodie eines ›gelehrt‹ wirkenden Stil, der auch Nichtigkeiten und Trivialitäten aufwendig schildert und vor allem sich selbst ernst nimmt.
(a) »Bestiarien« als Satiren über die lexikographisch erfaßten Objekte
Franz Blei hat ein satirisches »Bestiarium literaricum« verfaßt (1920/24), dessen Artikel sich an die Darstellungsweise von biologischen (tierkundlichen) Sachbüchern anlehnen; die Satire zielt auf die dargestellten Gegenstände: auf zeitgenössische Autoren. Eine zahlenmäßig große Rolle spielen dabei, passend zum ›naturkundlichen‹ Stil des Lexikons, die Naturalisten, aber auch andere Autoren finden sich geschildert,
Blei porträtiert auch das (Dichter-)Tier »BLEI«:
(b) Parodie der lexikographischen Darbietungsform: »Die Nixen von Estland«
Mit der lexikographischen Darstellungsform als solcher spielt ein Kompendium des Estländers Enn Vetemaa, das auf der Basis einer russischen Übersetzung aus dem Estnischen von Kat Menschik frei ins Deutsche übertragen worden ist; es gilt den »Nixen von Estland« (Menschik 2002).
In der »Einführung« stellt sich das Buch als nixenkundliches Werk vor. Als seinen Vorgänger nennt es das »Buch von den Nixen« M. J. Eisens, das bereits 60 Jahre alt und zur antiquarischen Rarität geworden sei. Daher bedürfe es eines zeitgemäßen nixenkundlichen »Lehrmittels«, vor allem für Anfänger. Eisens Beschreibungen hätten den »exakten dichotomischen oder vergleichenden Tabellen des Bestimmungsbuches« zugrundegelegen. Eingeteilt werden die Nixen »in Familien, Gattungen und Arten, wie das jetzt üblich ist« (7); über manche Zuordnungen könne dabei diskutiert werden. Anregungen der Leser könnten in künftige Auflagen aufgenommen werden. Die estnischen Bezeichnungen der verschiedenen Nixen gehen – wie es heißt – auf den Verfasser (Vetemaa) selbst zurück, »da es sich auf dem Gebiet der Najadologie als dringend notwendig erwies, ähnlich wie in anderen Wissenschaften, mit Hilfe einer einheitlichen Nomenklatur eine Systematisierung durchzuführen und eine Klassifizierung vorzunehmen« – habe »die Najadologie sich doch längst aus einer beschreibenden und statistischen in eine exakte Wissenschaft verwandelt.« (8) Vetemaa erbittet von der Öffentlichkeit »Mitteilungen über Nixen, die anhand vorliegender Tabellen nicht bestimmt werden können« (9), und er verweist auf die künftige Arbeit der »Nixensektion der Gesellschaft der Naturforscher« (9).
Die den Artikeln vorangestellte »Allgemeine Bestimmungstafel estnischer Nixen« verzeichnet unter der »Ordnung: Nixenartige (Naiadomorpha)« (5) »Familien«, denen jeweils verschiedene »Gattungen« entsprechen, die ihrerseits teilweise in verschiedene Arten ausdifferenziert sind. Sie haben stets auch einen lateinischen Namen. Das »Bestimmungsbuch« ist angelegt wie ein populärwissenschaftliches Nachschlagewerk. Es enthält eine Fülle meist schwarzweißer Abbildungen, dazu Farbtafeln, die denen in anatomischen Atlanten nachempfunden sind und auf denen man etwa physiologische Besonderheiten der Nixen vorgeführt bekommt. Zu den Abbildungen, die höchst unterschiedliche, mit Eigenarten, Lebensformen und Umwelt der Nixen auf verschiedenste Weisen verknüpfte Objekte zeigen, gehören auch Tafeln, die jeweils mehrere Objekte in der Art natur- oder landeskundlicher Schaubilder präsentieren.
Kein Detail des Buches verstößt gegen die Spielregel; die gesamte paratextuelle Aufmachung ist auf die Idee eines Nixen-Bestimmungsbuchs abgestimmt – vom Foto der Zeichnerin Kat Menschik, das diese der Nixenwelt zumindest assoziiert bis hin zum auf dem Schutzumschlag zitierten Presse-Echo.