W.
Wirkliche und Mögliche Welten
V-Effekte. Satiren und Parodien

Eine Reihe von literarischen Kompendien setzt auf die Komik von Verfremdungseffekten, – sei es, daß sie die jeweiligen Gegenstände in der satirisch verfremdeten Form eines pseudowissenschaftlichen Nachschlagewerks präsentiert werden, sei es daß sie vertraute Darstellungsverfahren als solche parodieren. Überhaupt ist eine erhebliche Zahl der literarisch-ästhetischen Experimente mit wissenschaftlichen Darstellungsformen parodistisch – wenn auch keineswegs alle. Die Satire kann auf den Gegenstand der Darstellung zielen, etwa wenn in Form eines Lexikonbeitrags eine Person als seltsame Tierart porträtiert wird – aber auch auf die Darstellungsweise als solche, etwa im Sinn der Parodie eines ›gelehrt‹ wirkenden Stil, der auch Nichtigkeiten und Trivialitäten aufwendig schildert und vor allem sich selbst ernst nimmt.

(a) »Bestiarien« als Satiren über die lexikographisch erfaßten Objekte
Franz Blei hat ein satirisches »Bestiarium literaricum« verfaßt (1920/24), dessen Artikel sich an die Darstellungsweise von biologischen (tierkundlichen) Sachbüchern anlehnen; die Satire zielt auf die dargestellten Gegenstände: auf zeitgenössische Autoren. Eine zahlenmäßig große Rolle spielen dabei, passend zum ›naturkundlichen‹ Stil des Lexikons, die Naturalisten, aber auch andere Autoren finden sich geschildert,

Franz Blei, Bestiarium literaricum (zuerst 1920. Zweite Ausgabe 1924), Artikel »DER BORCHARDT« (Porträt des Dichters Rudolf Borchardt): »DER BORCHARDT ist ein sehr sporadisch vorkommender, immer allein und hoch fliegender schöngefiederter Vogel aus der Gattung der Edelfasane. Er zeigt nur in der Höhe sein über alle Maßen kostbares Gefieder, im Busche kriechend weiß er es so geschickt zu verbergen, daß man nur die graue Unterseite seines Federschmuckes sieht, was Beobachter, welche den Borchardt im Fluge nicht gesehen haben, sondern nur manchmal im Buschwerk, zu der Behauptung veranlaßte, der Borchardt sei grau und nicht so prächtig. Es gehören aber klare und scharfe Augen dazu, ihn in der Höhe zu sehen. Auch das solitäre Vorkommen des Borchardts haben einige bestritten und behauptet, es sei ein Gefolgsvogel der George. Doch stimmt dieses mit nichten. Denn daß der Borchardt zuweilen hoch über den George hinfliegt, darin kann Gefolgschaft nicht gesehen werden. Darin ganz unähnlich den Fasanen ist des Borchardts Schrei von prächtigem Klange und fast ein Gesang zu nennen, in dem manche vieler Singvögel Singweise zu entdecken meinen. Aber die wenigen, die sich ohrbegabt genauer mit dem Gesang des Borchardts befaßt haben, sprechen, er habe eine ihm durchaus eigene Melodie, nur singe er viel zu selten, als daß man sie sich merken könne.« (23)

Blei porträtiert auch das (Dichter-)Tier »BLEI«:

»Der Blei ist ein Süßwasserfisch, der sich geschmeidig in allen frischen Wassern tummelt und seinen Namen – mhd. blî, ahd. blîo = licht, klar – von der außerordentlich glatten und dünnen Haut trägt, durch welche die jeweilige Nahrung mit ihrer Farbe deutlich sichtbar wird. Man kann so immer sehen, was der Blei gerade gegessen hat und ist des Fraßes Farbe lebhaft, so wird der Blei ganz unsichtbar und nur die Farbe (18) bleibt zu sehen. Unser Fisch ißt sehr mannigfaltig, aber gewählt, weshalb er auch, in Analogie zu jenem Schweine, der Trüffelfisch genannt wird, wegen seiner Fähigkeit, Leckerbissen aufzuspüren. Gefangen und in einen Pokal gesteckt dient er oft Damenboudoirs als Zimmerschmuck und macht da, weil er sich langweilt, zur Beschauerin nicht ganz einwandfreie Kunststücke mit Flossen und Schwänzchen. […] Eine merkwürdige Freundschaft unterhält der Blei mit dem Kartäuserkrebs ebenso wie mit dem Rothecht, aber über die Natur dieser Freundschaft ist man noch nicht genügend im klaren, als daß hier gewissenhafter Bericht möglich wäre. Zumal der echte Kartäuserkrebs sehr selten ist und über die Lebensweise des Rothechtes die unsinnigsten Fabeln im Umlauf sind.« (Ausgabe 1924: 22, Ausgabe 1920: 17f.)

(b) Parodie der lexikographischen Darbietungsform: »Die Nixen von Estland«
Mit der lexikographischen Darstellungsform als solcher spielt ein Kompendium des Estländers Enn Vetemaa, das auf der Basis einer russischen Übersetzung aus dem Estnischen von Kat Menschik frei ins Deutsche übertragen worden ist; es gilt den »Nixen von Estland« (Menschik 2002).
In der »Einführung« stellt sich das Buch als nixenkundliches Werk vor. Als seinen Vorgänger nennt es das »Buch von den Nixen« M. J. Eisens, das bereits 60 Jahre alt und zur antiquarischen Rarität geworden sei. Daher bedürfe es eines zeitgemäßen nixenkundlichen »Lehrmittels«, vor allem für Anfänger. Eisens Beschreibungen hätten den »exakten dichotomischen oder vergleichenden Tabellen des Bestimmungsbuches« zugrundegelegen. Eingeteilt werden die Nixen »in Familien, Gattungen und Arten, wie das jetzt üblich ist« (7); über manche Zuordnungen könne dabei diskutiert werden. Anregungen der Leser könnten in künftige Auflagen aufgenommen werden. Die estnischen Bezeichnungen der verschiedenen Nixen gehen – wie es heißt – auf den Verfasser (Vetemaa) selbst zurück, »da es sich auf dem Gebiet der Najadologie als dringend notwendig erwies, ähnlich wie in anderen Wissenschaften, mit Hilfe einer einheitlichen Nomenklatur eine Systematisierung durchzuführen und eine Klassifizierung vorzunehmen« – habe »die Najadologie sich doch längst aus einer beschreibenden und statistischen in eine exakte Wissenschaft verwandelt.« (8) Vetemaa erbittet von der Öffentlichkeit »Mitteilungen über Nixen, die anhand vorliegender Tabellen nicht bestimmt werden können« (9), und er verweist auf die künftige Arbeit der »Nixensektion der Gesellschaft der Naturforscher« (9).
Die den Artikeln vorangestellte »Allgemeine Bestimmungstafel estnischer Nixen« verzeichnet unter der »Ordnung: Nixenartige (Naiadomorpha)« (5) »Familien«, denen jeweils verschiedene »Gattungen« entsprechen, die ihrerseits teilweise in verschiedene Arten ausdifferenziert sind. Sie haben stets auch einen lateinischen Namen. Das »Bestimmungsbuch« ist angelegt wie ein populärwissenschaftliches Nachschlagewerk. Es enthält eine Fülle meist schwarzweißer Abbildungen, dazu Farbtafeln, die denen in anatomischen Atlanten nachempfunden sind und auf denen man etwa physiologische Besonderheiten der Nixen vorgeführt bekommt. Zu den Abbildungen, die höchst unterschiedliche, mit Eigenarten, Lebensformen und Umwelt der Nixen auf verschiedenste Weisen verknüpfte Objekte zeigen, gehören auch Tafeln, die jeweils mehrere Objekte in der Art natur- oder landeskundlicher Schaubilder präsentieren.
Kein Detail des Buches verstößt gegen die Spielregel; die gesamte paratextuelle Aufmachung ist auf die Idee eines Nixen-Bestimmungsbuchs abgestimmt – vom Foto der Zeichnerin Kat Menschik, das diese der Nixenwelt zumindest assoziiert bis hin zum auf dem Schutzumschlag zitierten Presse-Echo.