N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gottlieb Wilhelm Rabener: »Versuch eines deutschen Wörterbuchs«

 1 | 2 | | |

»Der Vortheil, den wir im gemeinen Leben davon [also von einem neuen Wörterbuch] haben werden, ist unaussprechlich. Wir werden einander besser und mit völliger Zuverlässigkeit verstehen; alle Zweideutigkeiten werden sich verlieren, und Mancher, den man jetzt aus Mißbrauch einen gepriesenen Mäcenas genannt hat, wird künftig hören, daß er ein Dummkopf sei.« (R II 3f.)

»Mäzen«: das ist ein positiv konnotierter Ausdruck für einen Förderer der Künste. Als »Dummkopf« wird sich mancher vermeintliche »Mäzen« vielleicht dann herausstellen, wenn man sich klarmacht, daß mancher auf die Dummheit seiner Geldgeber setzt und ihn dann als »Mäzen« umschmeichelt. Rabeners Vorbemerkungen stehen in einem weitläufigen zeitgenössischen Kontext sprachtheoretischer Reflexion, an den in mehr als einer Hinsicht angeknüpft wird. Erstens durch das Bekenntnis zur »deutschen Mut­tersprache«, deren sich auch der Gelehrte nicht »zu schämen« brauche. (Bis weit ins 18. Jahrhundert hinein hatte die Ge­lehrtensprache Latein Vorrang vor dem Deutschen gehabt.) Zweitens ist das Projekt Sprachkritik/Sprachverbesserung tatsächlich ein wichtiges Projekt der Aufklärung. Leibniz’ »Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesse­rung der teutschen Sprache« hatten zur Rückbesinnung auf das Deutsche und zur Optimierung seiner Ausdrucksmittel ermutigt. Seine Vorschläge korrespondieren dem, was Rabener als Intention seines »Wörterbuchs« vorstellt, wenn dies bei Rabener auch in ironischer Weise geschieht. (Die Ironie richtet sich aber nicht gegen Leibniz und andere, die sich um die Verbesserung der Sprache bemühten, sondern gegen Sprachbenutzere, die durch unangemessenen Sprachgebrauch ein solches Projekt behindern.) Leibniz selbst hatte die Erarbeitung eines Wörterbuchs vorgeschlagen, das neben den allgemein geläufigen Wörtern auch die Termini der Spezialdisziplinen umfassen soll (»Unvorgreifliche Gedanken zu Verbesserung der teutschen Sprache«). Sowohl die empiristische als auch die rationalistische Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts betrachtete eine Kritik und Verbesserung der Sprache als besonderes Desiderat; in falschem oder unökonomischem Sprachgebrauch sah man die Ursache für Denkfehler, ja für gravierende Irr­wege sowohl bei der Erkenntnis der Erscheinungswelt als auch bei der metaphysischen Spekula­tion. In welchem Maße nachlässiger, vorurteilsbehafteter oder schlichtweg unsinniger Sprachge­brauch zu gedanklichen Chimären und unsinnigen Vorstellungen über Immanenz und Transzen­denz führe, hat vor allem der Empirist und Sprachkritiker George Berkeley immer wieder be­tont. Im dritten Buch seiner »Neuen Abhandlungen über den menschlichen Verstand« hat Leibniz dem »Mißbrauch der Worte« ein ganzes Kapitel gewidmet; er klassi­fiziert hier die einzelnen Fehler bei der Zuordnung der Wörter zu ihren Signifi­katen, um vor ihnen zu warnen. Differenziert wird dabei zwischen Wörtern, die immer ›leer‹ waren und »niemals eine bestimmte Idee« enthielten, sowie ande­ren, die ihre Bedeutung – ihren Konnex zu einer Idee – durch falschen Gebrauch verloren (Neue Abhandlungen, 390). Als Beispiel führt einer der Gesprächspartner die Wörter Weisheit, Ruhm und Gnade an; sein Gegenüber beeilt sich, die Definitionen dieser drei Beispiele zu liefern. – Richtiger Sprachgebrauch ist für Leibniz eine Frage der intellektuellen Diszi­plin. Und er verhält sich keineswegs indifferent gegenüber dem Bereich des Ethischen. Denn erstens führt falscher Sprachgebrauch zu falschen Vorstellungen und Mißverständnissen – er kann unbeabsichtigterweise lügenhaft sein. Zweitens sind gerade moralische und religiöse Begriffe die Hauptopfer nachlässiger Redepraxis.

(Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Hg. v. Ernst Cassirer. Hamburg 1971. Drittes Buch: »Von den Worten«. Kap. IX: »Von der Unvoll­kommenheit der Worte«/Kap. X: »Vom Mißbrauch der Worte«/Kap. XI: Über die gegen die besprochenen Unvollkommenheiten und Mißbräuche anzuwendenden Mittel«. – Diese Kapi­tel finden ihr Gegenstück bei Locke, so wie die Neuen Abhandlungen insgesamt Gegenstück zum Lockeschen »Essay concerning Human Understanding« sind. (Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. Bd. II. Hamburg 4. Auflage 1981. »Versuch«/Drittes Buch: »Von den Wörtern«. Kap. IX: »Über die Unvollkommenheit der Wörter«/Kap. X: »Über den Mißbrauch der Wörter«/Kap. XI: »Über die Mittel gegen die geschilderten Unvollkommenheiten und die mißbräuchliche Verwendung der Wörter«.)