N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gustave Flaubert: »Dictionnaire des idées reçues« (»Sottisier«)

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Andreas Kilcher hat den Zusammenhang zwischen »Bouvard und Pécuchet« und dem »Dictionnaire« (»Sottisier«) ebenfalls erörtert und beide Projekte in den Kontext der Geschichte der menippeischen Satire eingeordnet: »Weniger in humoristischer, sondern mehr in polemischer Absicht setzte Gustave Flaubert um 1850 im Kontext seines menippeisch-enzyklopädischen Romans ›Bouvard et Pécuchet‹ zu einem Wörterbuch an, das die epistemologischen und rhetorischen Praktiken des bürgerlichen Wissens zum Gegenstand seiner Kritik hat: der ›Dictionnaire des idées reçues‹.« (Andreas Kilcher, Mathesis und Poesis, 304) An diesem paradigmatischen Beispiel menippeischer Kritik des bürgerlichen Wissens werde »die menippeische Funktion auch des Wörterbuchs deutlich« (Kilcher 304).

»Der ›Dictionnaire des idées reçues‹ inszeniert, imitiert und parodiert nicht einfach das bürgerliche Wissen, sondern insbesondere auch dessen alphabetische Formatierung. Der Gegenstand dieses menippeischen Wörterbuchs ist folglich das Konversationslexikon als Inbegriff eines in Gemeinplätzen und Redewendungen konventionalisierten Wissens. Die satirische Poetik von Flaubert ist geleitet von der Insubordination gegen das zur Konversation konventionalisierte Wissen. Es ist ein satirisches Lexikon der bürgerlichen Rhetorik, ein Thesaurus der Gemeinplätze des bürgerlichen Wissens, ein Katalog des zu Vorurteilen, Meinungen, zur Doxa reduzierten Wissens, ›arrangée de telle manière que le lecteur ne sache pas‹ wie Flaubert 1850 in einem Brief erklärte, ›si on se fout de lui, oui ou non‹.« (Flaubert: Correspondance- Hg v. J. Bruneau, 2 Bde. Paris 1973-80, Bd. 1, 678f.) (Kilcher 304)

Daß sich Flauberts Kritik u.a. gegen die Institution des Wörterbuchs bzw. des Lexikons selbst richtete, bestätigen die einschlägigen Artikel »Encyclopédie« (»en rire de pitié«), »Dictionnaire« (»Dictionnaire: en rire – n’est fait pour les ignorants«) und »Littré« (»Littré: Ricaner quand on entend son nom«; dazu Kilcher 304). Kilchers plausibler Befund: »Flauberts satirisches Konversationslexikon richtet sich gegen die Diskursregelungspraxis der Konversationslexika, indem es ihre Form parodistisch imitiert.« (AK 304). Und so stellt sich das »Dictionnaire« Flauberts dar als ein »methodisches Anti-Konversationslexikon zur Dekonstruktion des Konversationslexikons, jener Reduktion des Wissens auf bloße ›idées reçues‹« (Kilcher, 304). Aber auch und gerade hierin liegt noch ein Moment der Aufklärung: »Es ist die Fortsetzung der kritisch-aufgeklärten Enzyklopädik gegen die normativ-bürgerliche im Medium des satirischen Wörterbuchs.« (Kilcher, 305)

Diesem aufklärerischen Programm verpflichtet sind auch spätere vergleichbare literarische Wörterbücher; Kilcher nennt Alain Finkielkraut: Petit dictionnaire illustré (1981), Jacques Sternberg: Dictionnaire des idées revues (1985), André Wartelle: Idées reçues... Supplement provisoire au dictionnaire de Gustave Flaubert (1997). In diesen und anderen ›lexikographischen‹ Wörter-Büchern artikuliert sich eine ambige, darum aber literarisch reizvolle Einstellung gegenüber der Institution des (Sach-)Wörterbuchs, des enzyklopädischen Dictionnaire: Sie wird satirisch verhöhnt und zugleich zum Medium der Satire, damit aber der Aufklärung, genutzt. »Encyclopédiste: Quand on pédale dans la pédanterie, on devient, non plus un cycliste, mais un encyclopédiste«, so heißt es bei Sternberg einerseits mit spöttischem Gestus. Andererseits wird das kritisch-aggressive Potential des Wörterbuchs betont: »Dictionnaire: Un dictionnaire aggressif et négatif ne peut jamais être achevé. Chaque jour qui passe apporte une nouvelle déception, un nouveau sujet d’effroi ou de révolte.« (zitiert nach Kilcher, 305, aus Jacques Sternberg: Dictionnaire des idées revues. Paris 1985. 75.)

Literaturhinweis: Anne Herrschberg Pierrot: Dictionnaire et fiction: le Dictionnaire des idées reçues de Flaubert. In: Dictionnaire et Littérature. Actes du Colloque international ›Dictionnaire et littérature, Littérature et dictionnaires (1830-1990)‹. Hg. v. P. Corbin und J.-P. Guillerm. Paris 1995 (= Lexique 12/13), 345-355