N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gustave Flaubert: »Dictionnaire des idées reçues« (»Sottisier«)

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Tatsächlich heißt es in einer Skizze Flauberts zu Bouvards und Pécuchets weiterer Tätigkeit: »Sie kopierten ... alles, was ihnen in die Hände fiel ... lange Aufzählung ... Exzerpte aus den zuvor gelesenen Autoren. ›alte‹ Papiere, nach Gewicht gekauft in der benachbarten Papiermühle.« Und eine andere, ältere Notiz gibt eine Vorstellung von den Materialien, die dabei ins Spiel kommen sollten; Henschen spricht in diesem Zusammenhang von einem »Vorgriff auf avantgardistische, ja, kubistische, dadaistische oder Collage-Techniken«: »Sie kopierten aufs Geratewohl alle MS und bedruckten Papiere, die sie finden, Tabaketiketten, alte Zeitungen, verloren gegangene Briefe, Plakatanschläge usw., im festen Glauben, dass die Sache wichtig und aufhebenswert ist. [...] Da sich aber häufig zwei Texte aus derselben Klasse, die sie getrennt kopiert haben, widersprechen, schreiben sie sie erneut, einen nach dem anderen, in dasselbe Register ab.«

Im Nachwort zu einer deutschen Ausgabe von »Bouvard und Pécuchet« (»Komik des Wissens«, S. 409ff.) gibt Uwe Japp die nur hypothetisch erschließbare Fortsetzung des Romans unter Anlehnung an die Recherchen von Demorest (D.L. Demorest: A travers les plans, manuscrits et dossiers de ›Bouvard et Pécuchet‹, Paris 1931, S. 85] als Zitat so wieder:

Kapitel XI: »Sie kopieren alles mögliche, aber sie finden, daß sie ein Ordnungssystem brauchen. Also benutzen sie ein Register. Sie haben Freude am einfachen Akt des Abschreibens.
Proben aller Stilarten, landwirtschaftlich, medizinisch, theologisch, klassisch, romantisch, Umschreibungen. Parallelen – Verbrechen des Volkes, der Könige, Wohltaten der Religion, Verbrechen der Religion... Dictionnaire des idées reçues. Catalogue des idées chic. Le manuscrit de Marescot.
Sie numerieren die Kopien. Aber je mehr sie abschreiben, um so größer werden ihre Schwierigkeiten bei der Anordnung der Kopien – sie machen dennoch weiter.«
Kapitel XII: »Eines Tages finden sie (unter alten Papieren der Manufaktur) das Konzept eines Briefes von Vaucourbeil an den Präfekten. Der präfekt hatte angefragt, ob Bouvard und Pécuchet nicht gefährliche Irre seien. Der Brief des Doktors ist eine vertrauliche Mitteilung, in der erklärt (429) wird, daß sie zwei harmlose Schwachsinnige seien. Das Resümee all ihrer Taten und Gedanken soll für den Leser die Kritik des Romans sein. Was sollen wir damit anfangen? Nicht darüber nachdenken! Schreiben wir es ab! Die Seite muß voll werden – alles ist gleich, das Gute und das Böse, das Schöne und das Häßliche...
Der Schluß zeigt, wie sich die beiden Biedermänner über ihr Pult beugen und abschreiben.« (Japp, Nachwort in Flaubert, Bouvard und Pécuchet, 428f.)

Dazu Japp:

»Aus diesem Plan ging also hervor, daß der ›Dictionnaire des idées reçues‹ der ›Catalogue des idées chic‹ und andere Entwürfe noch in den ersten Band des Romans aufgenommen werden sollten. Das ist insofern von Bedeutung, weil damit der Übergang von der individuellen Bildungsgeschichte zur anonymen Repräsentation des Wissens und Nichtwissens im Dictionnaire und im Catalogue nicht als der Übergang vom ersten zum zweiten Band zu denken wäre. Dieser Übergang würde sich vielmehr bereits im ersten Band abspielen und so die Fiktion des Romans im Roman sprengen. Denn solange es noch Bouvard und Pécuchet sind, die reden und handeln, bewegen wir uns noch im vertrauten Rahmen eines romanhaften Geschehens; dort, wo das anonyme Gerede des Dictionnaire beginnt, ist jede traditionelle Definition des Romans, so weit gefaßt sie auch sei, deutlich überschritten: dort beginnt eine neue Idee der Literatur.
Zu dieser Idee einer anonymen und vielstimmigen Literatur hätte der zweite Band von ›Bouvard und Pécuchet‹ die Anschauung liefern sollen. Der ›Sottisier‹ wäre ein Buch über alles und nichts geworden, die schillernde Verbindung der Sprache des Wissens mit der Sprache des Alltags. An die Stelle einer Geschichte wäre eine masse von Diskursen und Diskursfetzen getreten, An die Stelle des Stils der Dichtung wären der Lärm und die Stille des Geredes getreten. Es wäre ein Buch der Wahrheit und der Dummheit geworden: ein Buch der Bücher.« (Japp, in Flaubert/Nachwort 429)