N.
Neue Perspektiven auf Sprachbestände und Ausdrucksweisen:
Das Wörterbuch als Form der Satire, Parodie und Diskurskritik
(Rabener – Lichtenberg – Flaubert – Bierce)
Gustave Flaubert: »Dictionnaire des idées reçues« (»Sottisier«)

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Der Herausgeber der deutschen Ausgabe H.-H. Henschen, stellt in seiner ‚Editorische Nachlese‹ (589ff.) die Geschichte des als Torso hinterlassenen Projekts dar; es war ein »Sammelbecken für verschiedene Projekte des Autors, die seit Mitte der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts dokumentiert sind – ein Sammelbecken, aus dem sich auch der Roman ›Bouvard et Pécuchet‹ speist (und nicht etwa umgekehrt), so dass kaum mehr deutlich unterscheidbar bleibt, was Haupt- und was Seitentrieb ist.« (589) Caroline Commanville, Flauberts Nichte und Nachlaßverwalterin, nennt die beim Tod ihres Onkels (1880) hinterlassenen Materialien »Papier trouvés ça et là sur la table de travail«. Weitaus umfangreicher als die Hinterlassenschaften auf dem Schreibtisch ist das Gesamtkorpus der »Vorbereitenden Dokumente«, die C. Commanville Maupassant übergibt. Maupassant scheint, so Henschen, in die Verfahrensweise eingeweiht gewesen zu sein, »mit der Flaubert diesen kolossalen Torso ›aufzubereiten‹ entschlossen war: Er spielte, unter Zeitdruck, sogar mit dem Gedanken, einen Abschreiber zu ›mieten‹ der die im Voraus bezeichneten und markierten Textteile ›kopieren‹ sollte.« (Henschen 589). Maupassant lehnt die Herausgeberschaft dieses Nachlasses ab.

»Ich habe gerade drei Monate mit dem Versuch verbracht, die Notizen unseres armen Verstorbenen zu durchmustern und zu ordnen, um daraus das Buch zu machen, das ihm vorschwebte, und ich halte diese Aufgabe inzwischen für undurchführbar. / Diese Aufzeichnungen sollten, seinem Plan gemäß, durch erzählerische Bruchstücke [morceaux de récits], die auch die beiden Commis [Bouvard und Pécuchet] wieder in Szene setzten, verbunden und durch Dialogfragmente zusammengehalten werden, die die Kommentare ihrer Lektüren und Abschriften bildeten. Diese Teile kann ich mir nicht wiederherzustellen erlauben, und ohne sie ist das Buch unlesbar: Es bildet lediglich eine Anhäufung, einen Wirrwarr von Zitaten ohne Ordnung, deren Sinn dem Leser sehr häufig entgehen wird.« (30. 7. 1881, Zit. nach Henschen 590)

1880/81 erscheint aus dem Nachlaß »Bouvard et Pécuchet«, die fragmentarisch gebliebene Geschichte zweier wissensbeflissener Kleinbürger. Diese findet ihre konsequente Fortsetzung im Wörterbuchprojekt, wie Henschen verdeutlicht.

»Als Bouvard und Pécuchet [...] nach ungezählten Fehlschlägen wieder aus den Tiefen ihres noch immer ungestillten Wissensdranges auftauchen, die kein kognitiver Lichtstrahl dauerhaft erhellt hat: als sie sich mit der nicht länger zu leugnenden Gewissheit vertraut machen, dass ihnen ›alles unter den Händen zerronnen‹ ist; als sie schließlich sogar, nach Planung und (Beinahe-)Ausführung eines gemeinsamen Selbstmordes, den nur das Versäumnis eines gültigen Testaments und die bange Furcht verhindern, ›was wohl aus ihren Manuskriptstößen und Sammlungen werden‹ mag, sich der Religion in die weit geöffneten Arme werfen, aber auch da dieselben Enttäuschungen ernten wie [...] als Adoptiveltern und Pädagogen; als sie zu guter Letzt (...) ihre summa theoretica in einer Vortragsreihe im Dorfkrug zusammenfassen, aber auch da ausgepfiffen werden [...], da beschließen sie...
Und was sich bisher im ›narrativen genre‹ vollzogen hat, im gerade noch gebändigten Fluss einer wie auch immer gebrochenen, aber doch formal als Fiktion kenntlichen Erzählung, endet in der bewusst oder unbewusst inszenierten, hier im buchstäblichen Sinne aufzufassenden ›Materialschlacht‹ mit der sich dieser zweite vom ersten Band des Romans ›Bouvard et Pécuchet‹ abgrenzt und lossagt: im nachgelassenen ›Brouillon‹ im ›Entwurf‹ im ›Projekt‹ in der ›Skizze‹ im ›Szenario‹ schließlich im ›Exzerpt‹.
... da beschließen sie – so will es der editorische Nachtrag zum zehnten Kapitel von ›Bouvard et Pécuchet‹ [den allerdings C. Commanville verfaßt hat, vgl. Henschen, 9] einen Einfall in die tat umzusetzen, den jeder der beiden insgeheim schon lange gehabt hat, dem anderen bisher aber nur nicht eingestehen mochte: / Abschreiben wie früher. / Aber was abschreiben? Und wer schreibt? Der wahre Autor? Die wirklichen Autoren? Die Autor-Funktion? Die Autor-Fiktion?« (Henschen 9)