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Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Yoko Tawadas Wörterbuch-Texte

Yoko Tawadas Texte dokumentieren insgesamt ihr ausgeprägtes Interesse an Wörterbüchern. Ihre Figuren bewegen sich zwischen differenten Sprachräumen und haben schon darum gute Gründe, Wörterbücher zu konsultieren. Sie besitzen eine große Sensibilität für die materiell-konkrete Dimension von geschriebener Sprache und sind deshalb besonders dazu disponiert, das Wörterbuch als Aktionsraum eigensinniger, oft sogar quasi-lebendiger Wörter und Sprachpartikel wahrzunehmen.

»Eine Sprache, die man nicht versteht, liest man äußerlich. Man nimmt ihr Aussehen ernst. Das Gesicht eines französischen Textes sieht runder aus als das eines deutschen. Es fehlen die eckigen Schultern der großen Buchstaben, die im Deutschen jeder Zeile einen architektonischen Charakter geben.« (Tawada 2002, 34).

Dinge ›falsch‹ zu sagen oder zu entziffern, bedeutet, sie ›neu‹ zu sehen, zu bezeichnen oder zu deuten – so eine verfremdungsästhetische Kernidee, die Tawada immer wieder zum Ausgangspunkt des Schreibens nimmt. Das Eintauchen in eine fremde Sprachwelt führt zu Normverstößen gegen deren Regeln, in denen zumindest schöpferische Potentiale liegen. Wer eine Fremdsprache gebrochen oder unbeholfen spricht, entzieht sich der Reglementierung – hierüber zu lachen, wäre borniert.

»Durch das Studium [der Fremdsprachen] gewinnt man die Fähigkeit, etwas falsch zu machen. Alles, was neu ist, erscheint zuerst als falsch. Und die Freunde lachen dich aus, ohne zu merken, daß sie dadurch zu Sprachpolizisten werden.« (Tawada 2005, 14).

Solche positive Einschätzung der Unbeholfenheit im fremden Sprachraum deutet bereits darauf hin, was Wörterbücher aus Tawadas Perspektive jedenfalls nicht sind oder sein sollten: nämlich Instrumente, die den Sprachgebrauch normgerecht regulieren und den Verstoß gegen Konventionen des Bezeichnens unterbinden. Wie aber können Wörterbücher, die doch meist eigentlich genau zu diesem Zweck kompiliert, publiziert und genutzt werden, ihrer Indienstnahme durch die Sprachpolizei entzogen werden? Man muß sie offenbar gegen den Strich lesen.

Das Gegen-den-Strich-Lesen alltäglicher Schriftstücke ist ein zentrales poetisches Prinzip. Bei Tawada vollzieht sich mancher Aufstand der sonst so braven Schriftzeichen gegen die konventionelle Nutzung. Oft werden Zeichen vor den Augen der Erzählerinnen zu Dingen, ja zu lebendigen Objekten, Dinge hingegen zu (Schrift-)Zeichen und Texten. Selbst das eigene Ich kann als ein Buchstabengebilde gelesen werden. Wörtersammlungen können sich als Ding-Repertoires präsentieren und umgekehrt. Einfallsreich umspielen Tawadas Texte die ohnehin offene und nur bedingt gültige Grenze zwischen Glossar und Enzyklopädie.

Die Ordnung der Zeichen (der Wörter) und die Ordnung der Dinge, einerseits untrennbar miteinander verwoben, stellen einander zugleich wechselseitig in Frage. Erstere deckt sich mit letzterer allenfalls bezogen auf den sprachlich-kulturellen Raum, in dem das sprechende Individuum aufwächst und sozialisiert wird. Wo es später in einen anderen sprachlich-kulturellen Raum wechselt (wie viele Figuren Tawadas es tun), dort ist es als Folge der Begegnung mit einer neuen Ordnung der Zeichen zur Revision seiner Vorstellungen über die Dinge selbst gezwungen. Tun sich beim Sprachraum-Wechsel in der sprachlich bezeichneten Welt Inkongruenzen und Brüche auf, so werden die Dinge selbst vieldeutig und diffus. Orientierungsbedürftig, aber auch fasziniert begegnet der kulturelle Grenzgänger ihren neuen Gesichtern.