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Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Schreiben am Leitfaden von Wörterbüchern: Das »Wörterbuchdorf«

Ein »Wörterbuchdorf« errichtet Tawada in dem Band »Talisman«. Der auf den einander gegenüberliegenden Doppelseiten zweisprachig gesetzte Text der Erzählung (dessen beide Hälften auch durch den bedruckten Untergrund, eine stark verfremdete Photographie in einem Spiegelungsverhältnis zueinander stehen) stammt im japanischen Original von Tawada und wurde von Peter Pörtner ins Deutsche übersetzt. Als »Buch im Buch« (so der Obertitel) nimmt die Erzählung die Seiten 63-79 des insgesamt aus gut 130 Seiten bestehenden Bandes ein – und damit dieselbe Mittelstellung wie der »Tintenfisch« im »Chinesischen Wörterbuch«. Ein weiteres Reich der Mitte also – und eines des Übersetzens. Als eine Erzählung, die gleich zweimal abgedruckt ist, eben auf Japanisch und auf Deutsch, ist der Text zudem ebenso gedoppelt wie der Tintenfisch im »Chinesischen Wörterbuch«. Daß gleich im Eingangsabsatz Fische auftauchen, freilich solche, die in Bäumen hängen und insofern offenbar wieder einmal Bewohner eines Zwischenraums sind, überrascht da nicht.

»Morgens um fünf Uhr. Die Glocken der Kirche schrecken den Kalender auf. Der Wind dröhnt. Die Alaska-Lachse, die Krähen und die Äpfel werden krachend aus den Ästen der großhäuptigen Bäume geweht. In der weichen Erde öffnet sich ein topfförmiges Loch.« (Tawada 1996, 65)

Nach dieser kurzen Exposition wird die Erzählung auch schon mit dem autoreflexiven Hinweis darauf unterbrochen, wie und auf welcher Grundlage sie zustande kam. Ihre Matrix, so heißt es, sei ein Wörterbuch. Entsprechend seien es auch nicht wirkliche Ereignisse, die dargestellt würden. Was kann es dann sein, das sich darstellt? Es müssen wohl die Wörter selbst sein. Diese erscheinen als Bausteine einer erzählerisch entfalteten Welt – einer, in der man sich über nichts zu wundern braucht, weil hier alles anders zugeht als anderswo, das Verschiedenartigste sich verbinden kann. Verwechselungen – so heißt es dann auch – seien hier nicht so schlimm. (»Alle Ereignisse in diesem Dorf sind keine echten Ereignisse. Denn dieses Dorf ist aus einem Wörterbuch geboren. Deshalb sind hier auch die sonderbarsten Dinge nicht wert, daß man darüber erstaunt. Und Verwechslungen brauchen einem hier nicht peinlich zu sein.« (Tawada 1996, 65) Die Genese des Dorfes wird im folgenden beschrieben: als Konkretisierung der sich in Dinge verwandelnden Wörter aus einem Wörter-Buch, das schließlich (nachdem alle seine Wort-Elemente es verlassen haben) als leere Hülse zurückbleibt. Von den Dingen, in welche sich die Wörter verwandelt hätten, wisse man aber, so der Bericht weiter, schon einen Tag später nicht mehr, aus welcher Sprache sie abstammen, aber es sei auch legitim, nach Entstehung einer solchen Welt ihre Matrix zu vergessen.

»Die Wörter, die aus dem Wörterbuch herausstiegen, verwandelten sich in der Reihenfolge ihres Erscheinens in wirkliche Dinge, und so entstand eben dieses Dorf. Und als das Dorf entstanden war, hatte man bereits vergessen, in welcher Sprache das Wörterbuch verfaßt gewesen war. Nachdem alle Wörter aus seinem Bauch entwichen waren, blieb von dem Wörterbuch nur eine Art Zikadenschale übrig, die sich im Herbstregen, der am nächsten Tag unausweichlich zu fallen anfing, wie ein Bonbon auflöste. Schon ein Wörterbuch ohne Einband ist nun einmal wie ein Himmel ohne Rahmen, und wenn es sich gar einmal ganz aufgelöst hat, ist es aus der Geschichte verschwunden und wird vergessen.« (Tawada 1996, 65)

Die im folgenden erzählte Geschichte entspinnt sich am Leitfaden der Wörter eines Wörterbuchs, das sich der Leser denken muß, da es ihm ja nicht mitgeliefert wird. (Der deutsche Leser steht dabei dem japanischen Wörterbuch, aus dem der Originaltext seine Komponenten bezieht, noch ferner als der Leser des Originals. In gewissem Sinn muß aber auch der Leser des japanischen Textes das Wörterbuch rekonstruieren, aus dem sich die Autorin bedient.) Der Text bezeichnet sich insofern selbst als das Produkt eines Vorgangs, bei dem sich ein Vokabular entfaltet – und nicht etwa die Darstellung einer vorgestellten Sequenz sprachunabhängiger Ereignisse. Entsprechend sinnlos wäre es, die dargestellten Ereignisse als solche entschlüsseln zu wollen. (Vgl. Der Klang der Geister. In: Tawada 1996, 109ff.: »Etwas tröstlicher ist es […] Literatur zu schreiben, als die Sprache im Alltag zu benutzen. In der Literatur beabsichtige ich wenigstens nicht, eine sinnvolle Botschaft zu vermitteln. Literarische Wörter flechten ein Netz, und dieses Netz fängt die Abfälle von Schwingungen auf.« Tawada 1996, 115)

Es scheint im übrigen, als hätten sich die Elemente dieser Dorfwelt trotz ihrer Ablösung vom Wörterbuch doch keineswegs von ihrem ursprünglichen Wortcharakter getrennt (und tatsächlich besteht das »Dorf« ja strikt genommen aus Wörtern und sonst nichts). Als eine »Eigentümlichkeit« des Wörterbuchdorfs erwähnt wird eigens, daß es hier »Botschafter« gibt (Tawada 1996, 67), und das Bier hat im Dorf einen allzu starken Geruch, weil sich »vielleicht […] das Wort Bier zu häufig in der Nachbarschaft des Worts Exkrement aufgehalten und deshalb zu stinken angefangen« hat (67). Die Wörterbuch-Weltgeschichte durchläuft eine weiße und eine grüne Phase, beides offenbar unter dem Regiment von Wörtern für weiße bzw. für grüne Objekte. So ergibt sich zunächst eine Kette von Milch über Schaum, Waschmittel, schneeweißen Tischdecken, weißen Ohren und einer pigmentlosen Familie. Danach begrünt sich die intradiegetische Welt, indem ein »Grünes Jahr« geschildert wird. Das Wort »bohren« löst eine Kette von mit ihm verbundenen Vorstellungen aus – Lärm, Maschine, Bohrer, Straßenbau, Löcher in der Straße – wobei letzteres Bild zum Anlaß der Versicherung wird, eigentlich gebe es im Wörterbuchdorf keine durchlöcherbare Straße, denn hier bestehe »die Erdoberfläche […] aus Papier und darunter ist nichts.« (73) Auf eine surrealistisch anmutende Weise reihen sich in der Wörterbuchdorf-Geschichte allerlei rätselhafte Berichte und Feststellungen aneinander; dabei taucht auch das von Tawada als poetologische Metapher verwendete Puppenmotiv auf (75). Die Geschichte endet autoreferenziell; sie verdeutlicht abschließend nochmals, daß in ihrer Welt alles aus Wörtern gemacht ist und insofern einen chimärischen Zwischenstatus besitzt, halb real, halb irreal. Ein junger Motorradfahrer wird angesprochen und

»[…] sieht, wie der Mond eine halbfertige Frau beleuchtet. Halbfertig heißt, daß die rechte Hälfte ihres Körpers nur nebelhaft, wie vage hingefälscht erscheint, genau als wäre sie gar nicht da. Der junge Mann spricht sie an, hört aber mittendrin wieder auf. Er denkt, ich bin ja selbst so. Ein mittendrin unterbrochenes Wort. Auch ich selbst.« (79)

Auch »Das Wörterbuchdorf« ist ein metapoetischer Text, ein Modell für das, was sich aus Tawadas Sicht im poetischen Prozeß vollzieht: die Genese einer Eigenwelt aus Wesen, die dem Wörterbuch entstammen, der Ablauf von Ereignissen, die von Vokabeln induziert sind – und die niemals ganz aufhören, nach einem Wörterbuch auszusehen und zu klingen.