Der Gebrauch von Wörterbüchern führt in Tawadas Geschichten auf programmatische Weise gerade nicht dazu, daß ein zunächst fremder Text durch Anfertigung einer muttersprachlichen Interlinearversion zu einem lesbaren und verständlich anmutenden Gebilde wird. Stattdessen entsteht bei der Verwandlung der fremdsprachigen Texte in Texte aus Vokabeln der vertrauten Sprache ein fremder Text aus vertrauten Vokabeln. Und so wird dann die eigene Sprache auch noch fremd. In »Das nackte Auge« verwendet die Erzählerin einige Nummern der Filmzeitschrift »ecran« als fremdsprachiges Lesebuch, und sie tastet sich mittels eines Wörterbuchs an dessen Sätze heran.
Daß bekannte Dinge im fremdsprachigen Raum auf einmal anders heißen, führt dazu, daß sie sich selbst verwandeln – was den Beobachter faszinieren, aber auch irritieren und erschrecken kann. Tawada erzählt eine ganze Reihe einschlägiger Geschichten über solche Erfahrungen des Befremdlichen. Geschichten über die von Fremdsprachlichem ausgelösten Irritationen korrespondieren Tawadas Verständnis literarischen Schreibens unmittelbar. Denn dieses beruht auf Irritationen und erzeugt neue. Wer Wörterbücher benutze, strebe normalerweise nach Transformation von Unvertrautem in Vertrautes, so hieß es einleitend. Tawadas Poetik der Verfremdung zufolge ist dies eine Reduktion. Zu unterscheidet wäre zwischen ›sinngemäßer‹ und ›literarischer‹ Übersetzung. Die erste soll die Fremdheit des Ausgangstextes zum Verschwinden bringen oder doch relativieren, die letztere soll sie gerade sichtbar machen und betonen.
Wahrscheinlich bedarf es des katalysatorischen Effekts von Fremdsprachen, um Distanz zur eigenen, viel zu geläufig benutzten Sprache zu gewinnen. Die fremde Sprache befreit vorübergehend von der Bindung an die eigene, von der Bindung an die vertrauten Dinge und Anschauungsweisen. Die daraus resultierende Bindungslosigkeit hat aus der Perspektive der Anhänger von Sicherheit und Ordnung etwas Verdächtiges.
Durch einen lebendigen Menschen ersetzt wird das Wörterbuch übrigens in Tawadas Erzählung »Die Botin«: Eine Japanerin bittet eine andere, die nicht Deutsch kann, eine deutsche Botschaft mündlich zu übermitteln. Sie schreibt ihr die zu memorierenden Sätze in japanischer Ideogrammschrift auf. Der Lautwert der Ideogramme entspricht in etwa dem Lautwert der deutschen Silben. So kann die Botin einen Text wiedergeben, den sie nicht versteht. Allerdings ‘sagt’ er ihr etwas in ihrer eigenen Sprache, aber einen Sinn ergibt er nicht. (Tawada 2002, 49-50)