P.
Poetische Verfremdungen. Wörterbücher und Vokabeln – gegen den Strich gelesen und verwandelt
Vom Leben mit Wörterbüchern

Der Gebrauch von Wörterbüchern führt in Tawadas Geschichten auf programmatische Weise gerade nicht dazu, daß ein zunächst fremder Text durch Anfertigung einer muttersprachlichen Interlinearversion zu einem lesbaren und verständlich anmutenden Gebilde wird. Stattdessen entsteht bei der Verwandlung der fremdsprachigen Texte in Texte aus Vokabeln der vertrauten Sprache ein fremder Text aus vertrauten Vokabeln. Und so wird dann die eigene Sprache auch noch fremd. In »Das nackte Auge« verwendet die Erzählerin einige Nummern der Filmzeitschrift »ecran« als fremdsprachiges Lesebuch, und sie tastet sich mittels eines Wörterbuchs an dessen Sätze heran.

»Ich schlug jedes Wort im Wörterbuch nach, wenn ich in dem Dialogstück in ›ecran‹ weiterlas. So kam ich nur langsam vorwärts. Die fett gedruckte Stimme: ›Fragen – sehr – originell – für anfangen: wie – sind – Sie – angefangen – in – Kino? Sie – ? – fünfzehn – Jahre -, ich – glauben.‹ Das irritierte mich.« (Tawada 2004, 57)

Daß bekannte Dinge im fremdsprachigen Raum auf einmal anders heißen, führt dazu, daß sie sich selbst verwandeln – was den Beobachter faszinieren, aber auch irritieren und erschrecken kann. Tawada erzählt eine ganze Reihe einschlägiger Geschichten über solche Erfahrungen des Befremdlichen. Geschichten über die von Fremdsprachlichem ausgelösten Irritationen korrespondieren Tawadas Verständnis literarischen Schreibens unmittelbar. Denn dieses beruht auf Irritationen und erzeugt neue. Wer Wörterbücher benutze, strebe normalerweise nach Transformation von Unvertrautem in Vertrautes, so hieß es einleitend. Tawadas Poetik der Verfremdung zufolge ist dies eine Reduktion. Zu unterscheidet wäre zwischen ›sinngemäßer‹ und ›literarischer‹ Übersetzung. Die erste soll die Fremdheit des Ausgangstextes zum Verschwinden bringen oder doch relativieren, die letztere soll sie gerade sichtbar machen und betonen.

»Wenn ich einen Text sinngemäß übersetzen will, entferne ich mich zunächst von den Buchstabenkörpern. Ich lese deutsche Sätze laut vor, übersetze den gesprochenen Inhalt in Denkbilder und versuche dann, diese Bilder auf Japanisch zu beschreiben. Das ist eine kommunikative Übersetzung, aber keine literarische. Eine literarische Übersetzung muß obsessiv der Wörtlichkeit nachgehen, bis die Sprache der Übersetzung die konventionelle Ästhetik sprengt. Eine literarische Übersetzung muß von der Unübersetzbarkeit ausgehen und mit ihr umgehen, statt sie zu beseitigen.« (Tawada 1998, 35)

Wahrscheinlich bedarf es des katalysatorischen Effekts von Fremdsprachen, um Distanz zur eigenen, viel zu geläufig benutzten Sprache zu gewinnen. Die fremde Sprache befreit vorübergehend von der Bindung an die eigene, von der Bindung an die vertrauten Dinge und Anschauungsweisen. Die daraus resultierende Bindungslosigkeit hat aus der Perspektive der Anhänger von Sicherheit und Ordnung etwas Verdächtiges.

»Vielleicht ist es tatsächlich eine Sünde, neue Sprachen zu lernen, vielleicht ist jeder Sprachlehrer ein Teufel. Einmal las ich in einem Leserbrief, der in der Zeitung abgedruckt war, daß man keine andere Sprache lernen solle außer der einen, die man bekommen habe. Das sei die Sprache der Verantwortung, die man ein Leben lang auf dem Rücken tragen solle. / Wenn man keine Augen auf dem Rücken hat, sieht man die Sprache nicht, die man trägt. Deshalb darf man in dieser Sprache weder lachen noch lügen. Wer sich davon zu trennen versucht, verliert das Vertrauen der anderen, denn in einer fremden Sprache lügt man, ob man will oder nicht. In einer fremden Sprache lernt man also endlich zu lügen, Wort für Wort eine Welt zu flechten, die es nicht gibt. Clymene bot uns diese verbotenen Waren an, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.« (Tawada: Opium, 2002, 103)

Durch einen lebendigen Menschen ersetzt wird das Wörterbuch übrigens in Tawadas Erzählung »Die Botin«: Eine Japanerin bittet eine andere, die nicht Deutsch kann, eine deutsche Botschaft mündlich zu übermitteln. Sie schreibt ihr die zu memorierenden Sätze in japanischer Ideogrammschrift auf. Der Lautwert der Ideogramme entspricht in etwa dem Lautwert der deutschen Silben. So kann die Botin einen Text wiedergeben, den sie nicht versteht. Allerdings ‘sagt’ er ihr etwas in ihrer eigenen Sprache, aber einen Sinn ergibt er nicht. (Tawada 2002, 49-50)